Wilde Saat
trat neben Okoye an die Reling und folgte seinem Beispiel. Aber nein! Sie konzentrierte sich auf ihre Innenohren und rief sich deren äußerst komplizierte Beschaffenheit in Eri n nerung. Und während sie das empfindsame Zusammenspiel von knöchernen Hohlräumen, Hautmembranen und Oh r flüssigkeit vor sich sah, verschwand die Störung augen b licklich. Erinnerung und Korrektur waren ein einziger Vo r gang. Das Druckgefühl war verschwunden, das Gleichg e wicht wiederhergestellt. Es hatte sehr viel Übung und noch mehr Schmerzen gekostet, bis Anyanwu die Kontro l le ihres Körpers derart spielend beherrschte. Sie mußte le r nen, jede Veränderung in ihrem Organi s mus zu verstehen und sich ein genaues Bild davon zu machen, denn bei einer Erkra n kung oder Verletzung genügte nicht einfach der Wunsch, wieder gesund zu sein. So hatte sie die meiste Zeit ihres langen Lebens damit verbracht, die Krankheiten, Unrege l mäßigke i ten und Verletzungen, die ein Mensch erleiden kann, kennenzulernen. Oft genug war ihr keine andere Möglichkeit geblieben, als sich leichte Formen dieser Krankheiten und Verletzungen selbst beizubri n gen. Durch schmerzhaftes, langwieriges und geduldiges Experimenti e ren gelangte sie zu einer genauen Kenntnis ihres Körpers, seiner Gebrechen und deren Heilung. Auf diese Weise e r reichte es Anyanwu, bei einem Angriff die Kunst des Übe r lebens besser zu beherrschen als ihre Feinde die Kunst des Tötens.
Und auch jetzt hatte sie gewußt, wie die plötzlich au f getretene Störung zu beheben war, bevor sie sich zu einer b e trächtlichen Behinderung auswachsen konnte. Doch ihr Wissen bedeutete keine Hilfe für Okoye – jedenfalls nicht unmittelbar. Angestrengt suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Substanz, die ihm helfen würde. Anyanwu ve r fügte über eine lange Liste von Heilmitteln und Giften, samt der verschiedenen Mischungsverhältnisse, Zubere i tungsa r ten und Mengen. Viele dieser Arzneien vermochte sie in ihrem eigenen Körper herzustellen, wie etwa den Speichel, mit dem sie Doros Hand geheilt hatte. Aber ehe sie etwas Entsprechendes gefunden hatte, kam ein weißer Mann auf sie zu. Er brachte ihr einen kleinen Metallbecher, der mit etwas Flüssigkeit g e füllt war. Der Mann blickte auf Okoye, dann nickte er und reichte Anyanwu den Becher. Er machte ihr durch Zeichen klar, daß sie Okoye dazu bringen sol l te, den Becher auszutrinken.
Anyanwu betrachtete prüfend den Inhalt, dann setzte sie den Becher an die Lippen und nippte daran. Sie fürchtete sich, Okoye ein Getränk zu reichen, von dem sie nicht wußte, was es war.
Die Flüssigkeit brannte wie Feuer. Im ersten Auge n blick erschrak Anyanwu, dann spürte sie, wie das Getränk sich warm im Magen ausbreitete und eine wohltuend betäube n de Wirkung hinterließ. Es schmeckte wie Palmwein, nur viel schärfer. Ein Schluck davon mochte Okoye helfen, sein Elend zu vergessen. Ein weiterer Schluck würde ihm als Schlafmittel dienen. Es war keine Arznei, aber es würde ihm nicht schaden, und vielleicht half es ihm sogar.
Anyanwu dankte dem weißen Mann in ihrer Sprache. Sie bemerkte, daß er auf ihre Brüste starrte. Er war ein glattr a sierter, gelbhaariger junger Mann, ein athletischer Typ, dessen Fremdheit Anyanwu beunruhigte. Bei anderer G e legenheit hätte er gewiß ihre Neugier geweckt. Sie hätte versucht, mehr über ihn zu erfahren und sich mit ihm zu unterhalten. Sie e r tappte sich bei der heimlichen Frage, ob das Haar zwischen seinen Beinen genauso gelb sei wie das Haar auf seinem Kopf. Sie lachte laut über diese G e danken, und der junge Mann, der den Anlaß für diese Heiterkeit nicht kannte, beobachtete ihre wippenden Brüste.
Schluß damit!
Sie brachte Okoye in die Kajüte zurück. Als sie merkte, daß der gelbhaarige Mann ihnen folgte, drehte sie sich zu ihm um und gab ihm unmißve r ständlich zu verstehen, daß er gehen solle. Er zöge r te, und sie nahm sich vor, ihn ins Meer zu werfen, falls er sie unaufgefordert anfassen sollte. Meer! Ja, das war das fremdländische Wort für das große Wa s ser. Wenn sie es sagte, würde er verstehen, was sie meinte.
Doch der Mann ging, ohne ihr zu nahe zu treten.
Anyanwu überredete Okoye, die Flüssigkeit zu tri n ken. Er hustete, und seine Augen blickten angstvoll, doch er schluckte den Inhalt des Bechers gehorsam hinunter. Als Doro in die Kajüte kam, war Okoye bereits eingeschlafen.
Doro trat ein, ohne anzuklopfen. Er schaute sie mit o f fensichtlichem
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