Wilde Saat
von allem war, was Anyanwu bisher gehört hatte – übte eine seltsame Faszin a tion auf sie aus. Schon seit dem Tag, an dem Doro ihr das erste englische Wort beigebracht hatte. Nun wiederholte sie die Namen der Dinge sorgfältig und prägte sie ihrem G e dächtnis ein. Der gelbhaarige Isaak schien sehr davon a n getan. Als schließlich jemand seinen Namen rief, en t fernte er sich nur zögernd.
Sobald er gegangen war, kehrte das Gefühl der Einsa m keit zu ihr zurück. Obwohl es ringsum von Menschen wimmelte, fühlte sie sich vollkommen allein auf dem ries i gen Schiff mitten in der Unendlichkeit des Meeres. Ei n samkeit. Weshalb traf sie Anyanwu jetzt mit solcher Härte? Sie war allein gewesen, seit sie gewußt hatte, daß sie nicht wie andere Menschen sterben würde. Ständig hatte sie A b schied nehmen müssen von Freunden, Kindern und Gatten. Sie konnte sich nicht einmal mehr an das Gesicht ihrer Mutter und das ihres Vaters erinnern.
Doch dieses Alleinsein hier auf dem Schiff war a n ders. Es umschloß sie wie die Wasser des Meeres, die über i h rem Kopf zusammenschlagen würden, wenn sie vom Schiff hinunter in die Tiefe spränge.
Sie starrte auf die wogende Wasserfläche, dann h i nüber zu der Küste, die nun mit bloßem Auge kaum noch wah r zunehmen war, obwohl Doro gesagt hatte, das Schiff sei noch nicht richtig unterwegs. Anyanwu spürte, wie weit sie schon von zu Hause entfernt war. Vielleicht schon so weit, daß es für sie nie mehr eine Rückkehr geben konnte.
Ihre Hände umschlossen die Reling, den Blick auf die entschwindende Küste gerichtet. Was geschah mit ihr? Wie konnte sie nur ihre Heimat verlassen? War Doro das wert? Wie konnte sie leben unter all den Fremden? Weiße Haut, gelbe Haare – was b e deuteten ihr diese Menschen? Nicht einmal Fremde waren sie. Wesen aus einer anderen Welt, die sie geschäftig und lärmend umgaben, und doch in ihrer Seele kein Echo hinterließen, die Fesseln ihrer Ei n samkeit nicht zu sprengen vermochten.
Sie beugte sich weit über das Geländer.
»Anyanwu!«
Der Ruf drang kaum in ihr Bewußtsein. Er war wie das helle Summen eines Moskitos an ihrem Ohr. E i ne winzige Ablenkung.
»Anyanwu!«
Sie würde ins Meer springen. Seine Wasser würden sie zur Küste zurücktragen oder sie verschlingen. So oder so würde sie Frieden finden. Ihre Einsamkeit schmerzte i m mer unerträglicher. Es war ein Schmerz, den sie trotz ihrer Fähigkeiten weder bestimmen noch heilen konnte. Das Meer …
Hände griffen nach ihr, rissen sie zurück, stellten sie auf die Deckplanken. Hände bewahrten sie vor der See.
»Anyanwu!«
Gelbe Haare leuchteten über ihr. Weiße Haut. Wer gab ihm das Recht, sie anzurühren?
»Halt, Anyanwu!« schrie er.
Sie verstand das englische Wort, doch sie beachtete es nicht. Sie stieß ihn von sich und wandte sich wi e der der Reling zu.
»Anyanwu!«
Eine neue Stimme. Neue Hände.
»Anyanwu, du bist nicht allein!«
Vielleicht waren dies die einzigen Worte, die sie zur B e sinnung bringen konnten. Vielleicht war es die einzige Stimme, die ihre Not beenden, die Last di e ser entsetzlichen Leere so rasch von ihr nehmen konnte. Vielleicht konnten auch nur die Worte ihrer eigenen Sprache den Ruf der fe r nen Küste übert ö nen.
»Doro?«
Sie fand sich wieder in seinen Armen. Er hielt sie fest umschlungen. Ihr wurde bewußt, daß sie nahe daran gew e sen war, diese Arme – wenn nötig – zu brechen, um sich aus ihrem Griff zu befreien. Und sie empfand ein Gefühl der Beschämung.
»Doro, irgend etwas ist mit mir geschehen.«
»Ich weiß.«
Ihr Zorn war verraucht. Wie aus einer Betäubung erw a chend, blickte sie um sich. Der gelbhaarige Weiße! Was war mit ihm? »Isaak?« fragte sie besorgt. Hatte sie den jungen Mann über Bord gest o ßen?
In ihrem Rücken vernahm sie Worte. Worte der Verte i digung, gesprochen von einer Stimme, in der Angst schwang. Sie wandte sich um, sah Isaak vor sich, lebend, mit trockener Kleidung. Ihre Erleicht e rung war so groß, daß sie nicht auf den Klang der Stimme achtete. Er und Doro sprachen in ihrem En g lisch miteinander, dann sah Doro sie an.
»Hat er dir weh getan, Anyanwu?«
»Nein.« Sie blickte auf den jungen Mann und b e merkte das rote Mal auf seinem rechten Arm. »Ich habe ihm weh g e tan.« Beschämt senkte sie den Blick. Dann sagte sie, zu Doro gewandt: »Er wollte mir helfen. Ich hatte nicht vor, ihn zu verletzen, doch – ich war wie besessen.«
»Soll ich mich für dich entschuldigen?«
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