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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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wissen.
    »Zeig mir …« Okoye verstummte, als wisse er nicht richtig, wie er das ausdrücken sollte, was er sagen wollte. »Zeig mir, wie du wirklich bist!«
    Bereitwillig verwandelte sie sich in ihre wahre Gestalt, wurde eine junge Frau, deren Körper aufgehört hatte, zu altern, als sie zwanzig war. Mit zwanzig befiel sie eine schwere, bösartige Krankheit, während der sie Stimmen hö r te und nacheinander an den verschiedensten Stellen i h res Körpers entsetzliche Schmerzen erlitt. Sie schrie und lallte und redete in fremden Sprachen. Ihr junger Ehemann fürc h tete, sie würde sterben. Sie war Anasi, seine Haup t frau, und obwohl sie bei seiner Familie in Ungnade gefa l len war, weil sie fünf Jahre nach der Vermählung immer noch kein Kind geboren hatte, tat er alles, um sie nicht zu verlieren. Er b e mühte sich verzweifelt um Hilfe für sie. Unbedenklich bor g te er Geld und b e zahlte damit den alten Mann, der zu dieser Zeit das Orakel gewesen war. Er gab ein Vermögen aus für Opfertiere, die den Zorn der Gottheit besänftigen sollten. Kein anderer Mann hatte sich so um sie gesorgt, wie er es tat. Und mit e i nemmal schien der Zauber zu wirken. Die Krämpfe und Schmerzen wichen aus ihrem Körper, ihr B e wußtsein kehrte zurück. Doch etwas in ihr hatte sich verä n dert. Sie besaß eine Kontrolle über ihren Körper, die ans Unvorstellbare grenzte. Sie vermochte in ihr Inneres zu schauen und alles, was sie dort wahrnahm, zu verändern. So gelang es ihr auch, sich endlich ihres Mannes würdig zu e r weisen und eine Frau zu werden. Sie wurde schwanger. Im Laufe der Jahre schenkte sie ihrem Mann zehn gesunde Kinder. In den Jahrhunderten, die di e ser Zeit folgten, tat sie nie wieder so viel für einen Mann wie für diesen ersten.
    Wenn sie merkte, daß die Jahre vergangen waren, ohne ihren Körper zu zeichnen, ließ sie keine Ruhe, bis es ihr gelang, ihr Alter dem ihres Ehemannes a n zugleichen. Sie begriff sehr rasch, daß es nicht gut war, sich zu sehr von anderen zu unterscheiden. Große Unterschiede verursac h ten Neid, Mißtrauen, Furcht, Anschuldigungen wegen H e xerei. Doch so lange ihr erster Mann lebte, verzichtete sie nie ganz auf ihre Schönheit. Und manchmal, wenn er in der Nacht zu ihr kam, gestattete sie ihrem Körper, seine j u gendliche Gestalt anzunehmen – ein Vorgang, der sich o h ne Schwierigkeiten und ganz natürlich vol l zog, denn es war ihre wahre Gestalt, in die sie zurückkehrte. Auf diese We i se besaß ihr Mann bis ins Alter eine junge Frau. Und nun schien Okoyes Mu t tersmutter jünger als er selbst.
    »Nneochie?« sagte der Junge voller Zweifel. »Mutter s mu t ter?«
    »Ja, immer noch«, antwortete Anyanwu. »So sehe ich aus, wenn ich meinem Körper keine Befehle g e be. Und so sehe ich aus, wenn ich einen neuen Mann heirate.«
    »Aber du bist alt!«
    »Die Jahre können mir nichts anhaben!«
    »Und auch ihm nicht? Deinem neuen Ehemann?«
    »Auch ihm nicht.«
    Okoye schüttelte den Kopf. »Ich sollte nicht hier sein. Ich bin nur ein Mensch. Was hast du mit mir vor?«
    »Du gehörst Doro. Er wird sagen, was mit dir g e schehen soll – aber du brauchst keine Angst zu h a ben. Er begehrt mich zur Frau. Und er wird dir kein Leid antun.«
    Bedrohlich für Okoyes Leben wurde das Meer.
    Bald nachdem Anyanwu sich ihm gezeigt hatte, erkran k te er.
    Schwindel erfaßte ihn. Sein Kopf schmerzte. Er klagte über Brechreiz, und die kleine Kajüte beengte ihn.
    Anyanwu brachte ihn hinauf an Deck, wo die Luft frisch und kühl war. Aber auch dort setzte das sanfte Schlingern des Schiffes ihm zu – und auch Anyanwu litt immer stärker darunter. Sie begann sich unwohl zu fühlen. Sofort b e mächtigte sie sich dieses Gefühls und unterzog es einer Prüfung. Es äußerte sich in plötzlicher Schwäche, in Schwindel und heftigem Schweißausbruch. Sie schloß die Augen, und wä h rend Okoye sich über die Reling beugte und erbrach, untersuchte sie sorgfältig ihren Körper. Sie entdeckte eine Störung, eine Art von verstärktem Druck in den Gehörgängen beider Ohren. Eine kaum merkliche B e einträchtigung des Normalzustandes, doch Anyanwu kan n te ihren Körper so gut, daß ihr selbst die kleinste Veränd e rung daran auffiel. Einen M o ment lang beobachtete sie die Veränderung mit a n gespannter Aufmerksamkeit. Ihr war klar: Wenn sie nicht auf der Stelle etwas unternahm, die Unsti m migkeit zu beheben, würde diese sich verstärken und rasch in eine Krankheit übergehen. Am besten, sie

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