Wilde Saat
jemanden darüber gesprochen.«
»Das habe ich auch nie angenommen«, antwortete Anyanwu. »Schon als Kind schienst du zu wissen, wann du schweigen und wann du reden solltest.« Sie lächelte bei der Erinnerung an den kleinen, in sich gekehrten Jungen, der selbst bei den schlimmsten Schmerzen keine Tränen zeigte und der keine Miene verzog, wenn sie ihm die alten Mä r chen erzählte, die sie von ihrer Mutter gehört hatte. Erst wenn ihre Verwandlungen ihn erschreckten, verriet er g e wisse Gefühl s regungen.
Sie sprach leise. »Erinnerst du dich, Okoye, daß deiner Mutter Mutter hier eine Narbe hatte?« Sie strich mit dem Finger über eine Stelle unterhalb des linken Auges und ließ die alte, gezackte Narbe erscheinen, die er früher dort g e sehen hatte.
Mit einem Satz sprang Okoye auf die Tür zu.
Anyanwu reagierte blitzschnell und hielt ihn mühelos fest, obwohl er sie um ein großes Stück überragte und die Angst ihm ungeahnte Kräfte verlieh. »Bin ich nicht diese l be, die ich immer war?« fragte sie, als er seinen Widerstand au f gab.
»Du bist ein Mann!« keuchte er. »Oder ein Geist.«
»Ich bin kein Geist«, entgegnete sie. »Weshalb sollte es für eine Frau, die sich in eine Schildkröte oder einen Affen verwandeln kann, unmöglich sein, sich in einen Mann zu verwandeln?«
Wieder begann er, sich in ihrem Griff zu winden. Er war jetzt kein Kind mehr, er war ein junger Mann. Die Leich t igkeit, mit der ein Kind an Wunderdinge glaubte, war der Skepsis gewichen. Anyanwu wußte, sie konnte ihn nicht fortlassen. In seinem augenblicklichen Zustand war er f ä hig, über Bord zu spri n gen, was seinen unvermeidlichen Tod zur Folge g e habt hätte.
»Wenn du mir versprichst, hierzubleiben, werde ich mich in die Frau verwandeln, an die du dich eri n nerst.«
Noch immer versuchte er sich freizumachen.
»Nwadiani – Tochterkind – weißt du noch, daß nicht einmal die Schmerzen der Krankheit dich zum Weinen bringen konnten, als deine Mutter dich zu mir brachte. Aber du weintest, weil du nicht imstande warst, dich in eine andere Gestalt zu verwandeln.«
Er gab seinen Widerstand auf. Schweratmend stand er vor ihr.
»Du bist der Sohn meiner Tochter«, sagte sie beschw ö rend. »Wie könnte ich dir ein Leid antun!«
Er hatte sich nun beruhigt, und sie ließ ihn los. Die Ba n de zwischen einem Mann und der Gebärerin se i ner Mutter waren stark und innig. Doch um der S i cherheit des Jungen willen blieb sie in der Nähe der Tür stehen.
»Soll ich so werden, wie ich war?« fragte sie.
»Ja«, murmelte Okoye.
Für ihn verwandelte sie sich in eine alte Frau. Es war ein leichtes, die vertraute Gestalt anzunehmen. Sie war sehr lange eine alte Frau gewesen.
»Du bist es«, sagte der Junge staunend.
Sie lächelte. »Siehst du! Warum solltest du dich vor e i ner alten Frau fürchten.«
Zu ihrer Überraschung lachte er. »Du hattest immer viel zu viele Zähne, um eine alte Frau zu sein. Und auch deine Augen sahen nie alt aus. Die Leute sagten, die Gottheit s e he einen aus deinen Augen an.«
»Was denkst du?«
Er schaute sie voller Neugier an, schritt um sie herum und betrachtete sie aufmerksam von allen Se i ten. »Ich kann nicht denken. Weshalb bist du hier? Wie wurdest du Doros Skl a vin?«
»Ich bin nicht seine Sklavin.«
»Es ist auch schwer, sich vorzustellen, daß ein Mann dich gegen deinen Willen bei sich festhalten könnte. Wenn du nicht seine Sklavin bist, was bist du dann?«
»Seine Frau.«
Sprachlos starrte der Junge auf ihre Hängebrüste.
»Ich bin nicht diese verblühte und verhutzelte alte Frau, Okoye. Ich ließ nur zu, daß ich so wurde, als mein letzter Mann, der Vater deiner Mutter, starb. Ich sagte mir, daß ich nun genug Männer und genug Kinder gehabt hätte. Ich bin älter, als du es dir vorstellen kannst. Ich wollte mich ausr u hen. Nachdem ich mich viele Jahre als Orakel ausgeruht hatte, kam Doro. In seiner Art ist er genauso andersartig wie ich. Ich wollte, daß ich seine Frau würde.«
»Aber er unterscheidet sich nicht nur von anderen Mä n nern, irgendwie ist er völlig anders.«
»Und ich bin anders als jede andere Frau.«
»Du bist nicht so wie er.«
»Nein, aber ich habe ihn als meinen Ehegatten ang e nommen. Genau das habe ich mir immer gewünscht – e i nen Mann, der sich von allen anderen Männern untersche i det, so wie ich mich von allen anderen Frauen untersche i de.« Wenn dies auch nicht völlig der Wahrheit entsprach, Okoye brauchte es nicht zu
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