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Wilde Saat

Wilde Saat

Titel: Wilde Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Octavia Butler
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der Junge längst nicht mehr.«
    »Sie ist ein Abkömmling von mir.«
    »Wie du gesagt hast: Sie ist in guten Händen.« Doro sah sie an. »Das Land muß voll sein von deinen Nachko m men.«
    Ein Schatten von Traurigkeit huschte über Anyanwus Gesicht. »Ja, das ist wahr. Sie sind so zahlreich, leben so weit verstreut, und der zeitliche Abstand zwischen ihnen und mir ist so groß, daß sie weder mich noch einander ke n nen. Manchmal heiraten sie untereinander, und ich erfahre davon. Es ist entset z lich, aber was soll ich dagegen tun? Ich kann nicht darüber reden, ohne in einer falschen Weise die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Im Gegensatz zu mir sind sie nicht imstande, sich gegen die anderen zu ve r teid i gen.«
    »Du tust gut daran, Schweigen zu bewahren«, sagte D o ro. »Oft muß es andere Wege geben für Menschen, die so fremdartig sind wie wir.«
    »Wir …«, sagte sie gedankenverloren. »Hattest du auch Kinder von dem Körper, den deine Mutter g e bar?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich starb zu früh«, antwortete er. »Ich war erst dreizehn.«
    »Das ist traurig, sogar für dich.«
    »Ja.« Sie hatten das Deck erreicht, und er blickte aufs Meer hinaus. »Ich lebte vor siebenunddreißighundert Ja h ren und zeugte Tausende von Kindern. Ich wurde sogar eine Frau und brachte Kinder zur Welt. Und dennoch wü ß te ich gern, was mein ursprünglicher Körper hervorge b racht hätte. Ein W e sen von meiner Art? Ein Gegenstück zu mir?«
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte Anyanwu. »Es wäre dir ergangen wie mir. Du hättest ein normales Kind nach dem anderen in die Welt gesetzt.«
    Doro zuckte die Schultern und wechselte den Gegen s tand. »Du mußt deinen Tochtersohn und dieses Mädchen z u sammenbringen, sobald er sich wieder besser fühlt. Das Alter des Mädchens stimmt nicht. Sie ist noch ein wenig jünger als Okoye. Vielleicht finden sie Gefallen aneina n der.«
    »Sie sind miteinander verwandt!«
    »Das werden sie nie erfahren, wenn du es ihnen nicht sagst.
    Und du solltest auch diesmal schweigen. Sie haben nur sich, Anyanwu. Wenn sie es wünschen, können sie nach den Gesetzen des neuen Landes, in das ich sie bringe, he i raten.«
    »Und wie geschieht das?«
    »Es gibt eine Zeremonie. Sie geben sich gegenseitig das Treueversprechen vor einem …« Er gebrauchte das engl i sche Wort, das er ihr anschließend übersetzte. »… vor e i nem Priester.«
    »Die beiden besitzen außer mir keine Familie, und das Mädchen kennt mich nicht.«
    »Das spielt keine Rolle.«
    »Es wird eine armselige Hochzeit werden.«
    »Nein, ich werde ihnen Felder und Saatgut geben. And e re werden sie lehren, in dem neuen Land zu leben. Es ist ein gutes Land. Niemand, der arbeitet, braucht dort arm zu bleiben.«
    »Meine Kinder drücken sich nicht vor der Arbeit.«
    »Dann wird alles gut werden.«
    Er verließ sie, und sie machte einen Rundgang auf dem Oberdeck. Sie betrachtete das Schiff, blickte auf das Meer hinaus und zurück zum Land, das nur noch an der dunklen Reihe von Bäumen zu erkennen war. Leise Furcht stieg in ihr auf, ein nie gekanntes G e fühl der Sehnsucht und des Heimwehs. Alles, was ihr vertraut gewesen war, lag tief hinter dieser schmalen Barriere dunkler Bäume. Sie war dabei, ihr Volk zu verlassen, in einer Weise; die etwas Endgültiges hatte, das nie wieder rückgängig gemacht we r den konnte.
    Sie riß sich vom Anblick der Küste los, erschreckt von der Gefühlsregung, die sie zu überwältigen drohte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den Männern zu. Einige wa r en Schwarze, einige Weiße. Sie rannten auf dem Deck hin und her und gingen einer Beschäftigung nach, die Anya n wu nicht verstand. Der gelbhaarige Weiße näherte sich ihr, lächelte und starrte auf ihre Brüste, bis sie sich fragte, ob er je zuvor in seinem Leben eine Frau gesehen hatte. Er sprach langsam zu ihr und sehr akzentuiert.
    »Isaak!« Er zeigte auf seine Brust. »Isaak.« Dann deut e te er mit dem Finger auf sie, ohne sie jedoch zu berühren. Fragend hob er die buschigen, hellen A u genbrauen.
    »Isaak?« sagte sie und zerbrach sich fast die Zunge bei di e sem Wort.
    »Isaak«, er schlug sich gegen die Brust. Dann zeigte er wieder auf sie. »Du?«
    »Anyanwu«, erwiderte sie, nachdem sie begriffen hatte. »Anyanwu.« Sie lächelte.
    Auch er lächelte und versuchte, ihren Namen nachzus p rechen. Er ging neben ihr, bemüht, ihr alle Di n ge auf Deck mit ihren englischen Bezeichnungen zu nennen. Die neue Sprache – so verschieden sie auch

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