Wilde Schafsjagd
hatte, aber ich bekam nicht den Eindruck, dass irgendetwas gestorben wäre. Nur der Wein stieg mir schneller zu Kopf.
»Ich fürchte, meine Ohren können nicht richtig sterben«, sagte ich enttäuscht.
Sie schüttelte den Kopf.
»Das macht nichts. Da es für dich nicht notwendig ist, bringt es dir keine Nachteile, wenn du sie nicht abtöten kannst.«
»Darf ich noch etwas fragen?«
»Ja, sicher.«
»Wenn ich zusammenfassen darf, was du mir erzählt hast, kommt für mich Folgendes dabei heraus: Bis zum Alter von zwölf Jahren hast du deine Ohren gezeigt. An einem bestimmten Tag hast du sie dann verdeckt und bis heute kein einziges Mal mehr freigemacht. Bei Gelegenheiten, wo du nicht umhin kannst, deine Ohren zu zeigen, blockierst du den Durchgang zwischen ihnen und deinem Bewusstsein. Das stimmt doch?«
Sie lächelte. »Ja, so ist es.«
»Was passierte mit deinen Ohren, als du zwölf warst?«
»Nicht so schnell«, sagte sie, streckte ihre rechte Hand über den Tisch und berührte sanft die Finger meiner linken. »Bitte!«
Ich verteilte den Rest des Weines auf unsere Gläser und trank meins langsam aus.
»Zuerst will ich mehr über dich wissen.«
»Was willst du denn wissen?«
»Alles. Wie du aufgewachsen bist, wie alt du bist, was du machst und so weiter.«
»Meine Geschichte ist ganz gewöhnlich. So gewöhnlich, dass du garantiert beim Zuhören einschläfst.«
»Ich mag gewöhnliche Geschichten.«
»Meine ist von der Sorte gewöhnlich, die niemand mag.«
»Das macht nichts, erzähl schon – nur zehn Minuten.«
»Ich wurde am 24. Dezember 1948 geboren, Heiligabend. Kein besonders günstiger Geburtstag. Man kriegt nämlich immer die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke zusammen. Alle versuchen, billig wegzukommen. Mein Sternzeichen ist der Steinbock, meine Blutgruppe A. Diese Zusammenstellung riecht nach Bankangestelltem oder Beamtem. Mit Schützen, Waagen und Wassermännern soll sich der Steinbock nicht verstehen. Klingt das nicht nach einem langweiligen Leben?«
»Klingt eher interessant.«
»Ich bin auf gewöhnliche Art aufgewachsen und in eine gewöhnliche Schule gegangen. Als Kind war ich wortkarg, als Teenager langweilig. Ich lernte ein gewöhnliches Mädchen kennen – meine gewöhnliche erste Liebe. Mit achtzehn ging ich auf die Universität und zog nach Tokyo. Nach der Uni machte ich zusammen mit einem Freund ein kleines Übersetzungsbüro auf. Es reichte nach und nach zum Leben. Seit ungefähr drei Jahren haben wir unser Geschäft auch auf Werbebroschüren und andere Werbeaufträge ausgedehnt, und diese Sachen laufen ebenfalls immer besser. Eine Frau, die in unserer Firma arbeitete, lernte ich näher kennen, heiratete sie vor vier Jahren und ließ mich vor zwei Monaten von ihr scheiden. Warum, ist eine längere Geschichte. Ich habe einen alten Kater und rauche vierzig Zigaretten am Tag. Ich kann einfach nicht damit aufhören. Ich besitze drei Anzüge, sechs Krawatten und fünfhundert aus der Mode gekommene Schallplatten. Ich kenne sämtliche Ellery-Queen-Mörder. Ich nenne die vollständige Ausgabe von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mein Eigen, habe sie aber nur halb gelesen. Im Sommer trinke ich Bier, im Winter Whiskey.«
»Und an zwei von drei Tagen isst du in einer Kneipe Omelette und Sandwiches.«
»Genau.«
»Ein interessantes Leben!«
»Bisher war es langweilig, und es wird auch in Zukunft langweilig sein. Aber das macht mir gar nichts aus. So liegen die Dinge eben.«
Ich sah auf die Uhr. Neun Minuten und zwanzig Sekunden waren vergangen.
»Aber das, was du gerade erzählt hast, war doch nicht alles über dich?«
Ich sah eine Weile auf meine Hände auf dem Tisch. »Natürlich ist das nicht alles. Auch ein noch so langweiliges Leben kann man nicht in zehn Minuten erschöpfend abhandeln.«
»Darf ich meinen Eindruck äußern?«
»Bitte.«
»Wenn ich einen Menschen das erste Mal treffe, lasse ich ihn zehn Minuten reden. Dann beurteile ich ihn aus einer Perspektive, die der, aus der er erzählt hat, genau entgegengesetzt ist. Hältst du das für falsch?«
»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist das genau die richtige Strategie.«
Ein Kellner kam und deckte Teller auf. Ein anderer servierte die Gerichte, und der Saucenkellner goss Sauce darüber. Pass vom Mittelfeld zum Linksaußen, Flanke an Mittelstürmer.
»In deinem Fall kommt mit dieser Methode Folgendes heraus«, sagte sie, während sie ihr Messer in das Mousse de sole gleiten
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