Wilde Schafsjagd
aufgenommen. Mit einer billigen Kleinbildkamera, nicht von Ihnen. Sie besitzen eine Nikon Spiegelreflex, fotografieren besser und waren in den letzten fünf Jahren nicht auf Hokkaido. Das trifft zu, ja?«
»Wer weiß?«, sagte ich.
Der Mann schwieg eine Weile. Ein Schweigen, wie um die Qualität der Stille zu prüfen. »Nun gut. Was wir von Ihnen wollen, sind drei Informationen. Wo ist das Foto in Ihre Hände gelangt, wer hat es Ihnen gegeben, und zu welchem Zweck haben Sie eine so schlechte Aufnahme veröffentlicht?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte ich mit einer Entschlossenheit, die mich selbst überraschte. »Journalisten haben ein Recht auf Geheimhaltung ihrer Quellen.«
Der Mann starrte mich an und strich sich mit dem Mittelfinger der rechten Hand über die Lippen. Nachdem er die Bewegung ein paar Mal wiederholt hatte, legte er die Hand wieder auf sein Knie. Die Stille hielt noch eine Weile an. Wenn nur irgendwo ein Kuckuck riefe, dachte ich verzweifelt. Aber es rief natürlich keiner. Kuckucke rufen abends nicht.
»Sie sind wirklich ein merkwürdiger Mensch«, sagte der Mann. »Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, und Sie sind beruflich weg vom Fenster. Auf Ihren Journalismus können Sie sich dann so oft berufen, wie Sie wollen. Wenn man denn die Broschüren und Blättlein, die Sie herausbringen, als Journalismus gelten lassen will.«
Ich dachte noch einmal an Kuckucke. Warum rufen die abends wohl nicht?
»Außerdem: Es gibt tausend Mittel und Wege, um Leute wie Sie zum Reden zu bringen.«
»Das mag wohl sein«, sagte ich. »Aber das kostet Sie Zeit. Und so lange halte ich erst einmal den Mund. Und wenn ich etwas sage, sage ich nicht alles. Sie wissen ja nicht, wie weit das geht: Alles. Habe ich Recht?«
Ein Schuss ins Blaue, aber er saß. Die unsichere Stille danach zeigte mir den Treffer an.
»Es ist interessant, mit Ihnen zu plaudern«, sagte der Mann. »Ihre Träumereien sind nicht ohne Pathos. Aber schön, lassen wir das. Sprechen wir von etwas anderem.«
Der Mann zog eine Lupe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Schauen Sie sich damit einmal das Foto in Ruhe an.«
Ich nahm das Foto in die linke Hand, die Lupe in die rechte und sah mir die Aufnahme aufmerksam an. Ein paar Schafe schauten in die Kamera, ein paar schauten woanders hin, und ein paar fraßen einfach Gras. Aufregend wie ein langweiliges Klassenfoto. Ich nahm jedes Schaf einzeln unter die Lupe, sah mir den Grasstand der Wiese an, den Birkenwald hinter der Wiese, das Bergmassiv im Hintergrund und die Wolkenfetzen am Himmel. Es gab nichts Auffälliges, nicht das geringste. Ich sah vom Foto und der Lupe auf und den Mann an.
»Ist Ihnen etwas aufgefallen?«, fragte er.
»Nicht das Geringste«, sagte ich.
Der Mann machte nicht den Eindruck, enttäuscht zu sein. »Sie haben doch Biologie studiert, nicht wahr?«, fragte er. »Was wissen Sie über Schafe?«
»So gut wie nichts. Ich habe Fachstudien betrieben, fast alles ohne praktischen Wert.«
»Erzählen Sie das, was Sie wissen.«
»Paarhufer. Pflanzenfressendes Herdentier. In Japan wohl zu Anfang der Meiji-Zeit eingeführt, siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Genutzt werden Wolle und Fleisch. Das ist so ziemlich alles.«
»Korrekt«, sagte der Mann. »Wenn ich nur einen kleinen Punkt berichtigen darf: Sie wurden in Japan nicht in der frühen Meiji-Zeit eingeführt, sondern während der Ansei-Periode, zwanzig Jahre früher also. Davor allerdings gab es, wie Sie richtig bemerkten, in Japan keine Schafe. Schon zur Heian-Zeit sollen welche aus China ins Land gebracht worden sein, aber wenn diese Theorie den Tatsachen entspricht, müssen sie danach auf irgendeine Weise ausgestorben sein. Bis zur Meiji-Zeit hatten die meisten Japaner also weder je ein Schaf gesehen noch eine Vorstellung davon, was für ein Tier das sei. Keine präzise Vorstellung jedenfalls, obwohl das Schaf zu den zwölf chinesischen Tierkreiszeichen gehört und verhältnismäßig populär war. Unter einem Schaf konnte man sich, mit anderen Worten, ebenso wenig vorstellen wie unter einem Drachen oder einem Tapir. Tatsächlich sind die vor-meijizeitlichen japanischen Zeichnungen von Schafen völlig verzerrt. Die Japaner wussten damals so viel von Schafen wie H. G. Wells von den Marsmenschen. Auch heute noch ist das Schafbewusstsein der Japaner erschreckend gering. Kurzum: Der Japaner hatte, historisch betrachtet, im täglichen Leben mit dem Schaf nichts zu tun. Der Staat
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