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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Cutty Sark an the Rocks.
    »Wo waren wir?«
    »Bei Ihrem kalten und einsamen Leben.«
    »Um ehrlich zu sein, es war gar nicht so kalt und einsam«, sagte sie. »Nur das Wellenrauschen, das war schon ein bisschen kalt. Als ich einzog, behauptete der Hausmeister zwar, man würde sich schnell daran gewöhnen, aber dem war nicht so.«
    »Das Meer gibt es nicht mehr.«
    Sie lächelte versöhnlich. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln bewegten sich kurz. »Ja, Sie haben recht. Das Meer gibt es nicht mehr. Aber mir kommt es manchmal immer noch so vor, als hörte ich Wellenrauschen. In all den Jahren hat sich das Geräusch wahrscheinlich in meine Ohren gebrannt.«
    »Und dann tauchte Ratte auf, nicht wahr?«
    »Ja. Aber ich nannte ihn nie so.«
    »Wie haben Sie ihn denn genannt?«
    »Bei seinem richtigen Namen. Wie jeden anderen auch.«
    Genau genommen hatte sie Recht. »Ratte« war selbst als Spitzname zu kindisch. »Ja, natürlich«, sagte ich.
    Unsere Getränke kamen. Sie trank einen Schluck Salty Dog und wischte sich das Salz mit einer Papierserviette von den Lippen. Eine Spur Lippenstift blieb an der Serviette haften. Mit zwei Fingern faltete sie sie geschickt zusammen.
    »Er war, wie soll ich sagen … in höchstem Maße irreal. Wissen Sie, was ich meine?«
    »Ja, ich glaube.«
    »Als ich ihn zum ersten Mal traf, bildete ich mir ein, dass ich seine Irrealität brauchte, um meine loszuwerden. Deshalb habe ich mich in ihn verliebt. Oder vielmehr, weil ich mich in ihn verliebt habe, bildete ich mir das ein. Aber das kommt aufs Gleiche raus.«
    Die Klavierspielerin kam aus der Pause zurück und begann alte Filmmusik zu spielen. Die falsche Begleitung zur falschen Szene.
    »Manchmal denke ich, ich hätte ihn nur benutzt. Und er hätte das von Anfang an gespürt. Glauben Sie, dass es so war?«
    »Dazu kann ich nichts sagen«, sagte ich. »Das ist Ihr Problem, und seines.«
    Sie sagte nichts.
    Nach zwanzig Sekunden Schweigen bemerkte ich, dass sie alles gesagt hatte, was sie sagen wollte. Ich trank den letzten Schluck Whiskey, holte die beiden Briefe von Ratte aus der Tasche und legte sie mitten auf den Tisch. Dort blieben sie eine Weile unberührt liegen.
    »Muss ich sie hier lesen?«
    »Nehmen Sie sie mit nach Hause und lesen Sie sie dort. Und wenn Sie sie nicht lesen wollen, werfen Sie sie weg.«
    Sie nickte und steckte die Briefe in ihre Tasche. Der Metallverschluss klickte angenehm. Ich zündete mir die zweite Zigarette an und bestellte einen zweiten Whiskey. Den zweiten Whiskey mag ich am liebsten. Beim ersten atmet man auf, beim zweiten beginnt der Kopf zu arbeiten. Der dritte und alle folgenden haben keinen Geschmack mehr. Sie rinnen nur noch durch die Kehle in den Magen.
    »Sind Sie allein wegen dieser Sache aus Tokyo angereist?«, fragte sie.
    »Sieht fast so aus.«
    »Das ist nett!«
    »Von dieser Seite habe ich das noch nicht betrachtet. Reine Gewohnheit, würde ich sagen. Ich glaube, er würde dasselbe für mich tun, wenn die Situation umgekehrt wäre.«
    »War sie schon einmal umgekehrt?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Aber wir haben uns schon immer gegenseitig mit irrealen Bitten belästigt. Ob die dann real erfüllt werden, ist eine andere Sache.«
    »Leute, die so denken, gibt’s doch gar nicht!«
    »Ja, das mag sein.«
    Sie lächelte, stand auf und nahm den Kassenbon an sich.
    »Bitte lassen Sie mich die Rechnung bezahlen. Ich bin schließlich vierzig Minuten zu spät gekommen.«
    »Bitte, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte ich. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«
    »Sicher.«
    »Sie sagten am Telefon, Sie könnten sich vorstellen, wie ich aussehe.«
    »Damit meinte ich Ihre Ausstrahlung.«
    »Haben Sie mich wirklich sofort erkannt?«
    »Ja, sofort«, sagte sie.
    Es regnete in der gleichen Stärke weiter. Von meinem Hotelfenster aus sah ich das Neonschild vom Gebäude nebenan. In seinem künstlich grünen Schein eilten unzählige Regenfäden auf den Boden zu. Wenn man am Fenster stand und hinuntersah, konnte man glauben, sie strebten zu einem bestimmten Punkt dort unten.
    Ich kroch ins Bett, rauchte zwei Zigaretten und rief dann die Hotelrezeption an, um eine Platzkarte für den Morgenzug buchen zu lassen. In dieser Stadt gab es für mich nichts mehr zu tun.
    Es regnete noch bis Mitternacht.

SECHSTES KAPITEL
    Schafsjagd II
    1. MERKWÜRDIGES VOM MERKWÜRDIGEN MANN (I)
    Der schwarz gekleidete Sekretär setzte sich in den Sessel und sah mich wortlos an. Nicht kritisch und nicht abschätzig, auch nicht

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