Wilde Schafsjagd
Zweifel. War sie das aber von Anfang an? Nein. Im Anfang war das Chaos, und das Chaos ist nicht Mittelmaß. Die Mittelmäßigkeit kam erst mit dem Menschen, mit der Differenzierung von Leben und Produktionsmitteln. Und Karl Marx schrieb die Mittelmäßigkeit mit der Errichtung des Proletariats fest. Eben darum besteht eine direkte Verbindung zwischen Marxismus und Stalinismus. Ich bejahe Marx. Er gehört zu den wenigen Genien, die sich des Urchaos erinnern. In diesem Sinne bejahe ich auch Dostojewski. Den Marxismus allerdings lehne ich ab. Er ist zu mittelmäßig.« Der Mann gab einen leisen, kehligen Laut von sich.
»Ich spreche jetzt sehr ehrlich zu Ihnen. Ich vergelte Ihnen damit die Ehrlichkeit, mit der Sie eben gesprochen haben. Ich werde außerdem Ihre, sagen wir, naiven Zweifel und Fragen aus dem Wege räumen. Dafür werden Sie, wenn ich fertig bin, kaum noch die Qual einer Wahl haben. Ich bitte Sie, das im Kopf zu behalten. Einfach gesagt: Sie haben den Einsatz erhöht. Wir verstehen uns, ja?«
»Was bleibt mir übrig?«, sagte ich.
* * *
»In diesem Hause liegt zurzeit ein alter Mann im Sterben«, sagte der Mann. »Die Ursache der Krankheit steht fest. Im Gehirn hat sich eine riesige Blutgeschwulst gebildet. Der Tumor ist so groß, dass er das Gehirn fast erdrückt. Was wissen Sie über Gehirnmedizin?«
»So gut wie nichts.«
»Der Tumor ist, einfach gesagt, eine Blutbombe. Die Blutzirkulation wird gestört und führt zu ungewöhnlichen Schwellungen. Stellen Sie sich eine Schlange vor, die einen Golfball verschluckt hat. Wenn die Bombe platzt, setzt die Gehirntätigkeit aus. Eine Operation kommt nicht in Frage: Die Bombe geht bei der geringsten Erschütterung hoch. Um es kurz und realistisch auszudrücken: Wir warten nur noch auf den Tod. Er wird in einer Woche eintreten, vielleicht in einem Monat. Das weiß niemand.«
Der Mann spitzte den Mund und atmete bedächtig aus.
»Der Tod wäre nicht ungewöhnlich. Der Patient ist alt und die Krankheit bekannt. Ungewöhnlich ist, dass er so lange überlebt hat.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was der Mann sagen wollte.
»Tatsächlich wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn er vor zweiunddreißig Jahren gestorben wäre«, fuhr der Mann fort. »Oder vor zweiundvierzig. Die Geschwulst zuerst entdeckt hat der amerikanische Militärarzt, der die Gesundheitsuntersuchung der Hauptkriegsverbrecher durchführte. Das war im Herbst des Jahres 1946. Kurz vor den Tokyoter Prozessen. Der Arzt, der die Geschwulst entdeckte, war geschockt, als er die Röntgenaufnahmen sah. Geschockt, weil die Tatsache, dass ein Mensch mit einem so riesigen Tumor im Kopf lebte – und noch dazu aktiver lebte als der Normalverbraucher –, an ein medizinisches Wunder grenzte. Man verlegte den Patienten deshalb, um ihn gründlicher zu untersuchen, von Sugamo ins St. Lukas-Krankenhaus, das damals requiriert war und als Militärhospital diente. Die Untersuchungen zogen sich ein Jahr hin, ohne dass man etwas herausgefunden hätte. Außer, dass der Patient jederzeit hätte sterben können und dass es merkwürdig war, dass er überhaupt noch lebte. Aber er hatte auch später nicht die geringsten Beschwerden und sprühte vor Vitalität. Sein Gehirn arbeitete völlig normal. Eine Erklärung dafür gab es nicht. Man stand vor einem Rätsel und wusste nicht weiter. Kein Wunder: Da lief ein Mensch gesund herum, der theoretisch tot sein musste.
Einige Details kamen allerdings heraus. In vierzigtägigen Abständen traten jeweils für drei Tage heftige Kopfschmerzen auf. Nach Auskunft des Patienten bekam er sie zum ersten Mal im Jahre 1936; das war, vermutet man, die Zeit, da sich der Tumor bildete. Die Schmerzen waren damals so stark, dass man ihm Sedativa verabreichte. Rauschgift, mit einem Wort. Das Rauschgift linderte seine Schmerzen, ohne Frage, aber dafür bekam er merkwürdige halluzinatorische Erscheinungen. Extrem intensive Halluzinationen. Welcher Art genau, weiß nur der Patient, klar ist aber, dass sie nicht gerade angenehmer Natur waren. Detaillierte Aufzeichnungen bezüglich dieser Halluzinationen liegen beim amerikanischen Militär. Die Ärzte haben alles getreulich protokolliert. Ich habe mir die Aufzeichnungen auf illegalem Wege verschafft und mehrfach gelesen – sie sind absolut abstoßend, trotz des sachlichen Stils. Es dürfte nicht viele Menschen geben, die regelmäßig halluzinatorische Erlebnisse dieser Art überstehen können. Warum sie auftreten, weiß man
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