Wilde Schafsjagd
nicht. Es wird vermutet, dass der Tumor periodisch Energien freisetzt, auf die der Körper mit Kopfschmerzen reagiert. Wenn der Widerstand dieser Reaktion gebrochen ist, reizen die Energien unmittelbar Teile des Gehirns und rufen Halluzinationen hervor. Das ist natürlich eine reine Hypothese – aber eine, die die amerikanischen Militärs interessierte. Man stellte also eine gründliche Untersuchung an – für den Nachrichtendienst, top secret . Warum sich der Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten um die Untersuchung eines Tumors einer einzelnen Person kümmerte, ist bis heute nicht ganz klar, aber verschiedene Möglichkeiten lassen sich immerhin denken. Erstens: Man führte unter dem Deckmantel medizinischer Untersuchungen vertrauliche Verhöre durch. Zweck: Kenntnis der Nachrichten- und Opiumwege auf dem chinesischen Festland. Amerika war wegen der sich lang hinziehenden Niederlagen Tschiang Kai-scheks im Begriff, seine China connection zu verlieren. Die Verbindungen und Kanäle des Patienten waren Gold wert – man wollte sie um jeden Preis. Öffentliche Verhöre konnte man selbstverständlich nicht durchführen. Tatsächlich entließ man meinen Chef nach einer Serie solcher Untersuchungen, ohne ihn vor Gericht zu stellen. Ein Tausch hinter den Kulissen liegt durchaus im Bereich des Möglichen: Informationen gegen Freiheit. – Zweitens: Man versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Tumor und der exponierten Position meines Chefs an der Spitze der politischen Rechten. Eine interessante Überlegung, ich werde noch darauf zurückkommen. Am Ende fand man aber wohl nichts heraus. Wie hätte man auch, wo doch allein die Tatsache, dass er lebte, Rätsel aufgab. Man hätte ihn schon obduzieren müssen. Eine Sackgasse also. – Drittens: Man führte eine Art Gehirnwäsche durch. Man ging davon aus, dass das Gehirn auf bestimmte elektrische Stimuli mit besonderen Reaktionen antwortete – damals eine beliebte Methode. Man weiß, dass zu der Zeit in Amerika tatsächlich eine Studiengruppe zu Fragen der Gehirnwäsche eingerichtet worden war.
Auf welche dieser drei Möglichkeiten der militärische Nachrichtendienst sein Hauptaugenmerk legte, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Ebenso unbekannt ist, zu welchen Schlüssen man kam. Das liegt alles im Dunkel der Geschichte. Was sich wirklich ereignete, wissen nur eine Hand voll Leute aus der damaligen Führungsspitze der US Army und der Chef selbst. Der Chef hat darüber bisher mit niemandem gesprochen, mich eingeschlossen, und er wird es wohl auch in Zukunft nicht tun. Was ich Ihnen erzählt habe, sind also bloße Vermutungen.«
Als er bis dahin gekommen war, räusperte sich der Mann leise. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, seit ich das Zimmer betreten hatte.
»Über den Zeitraum der Entstehung des Tumors, also die Lage damals im Jahre 1936, wissen wir jedoch etwas besser Bescheid. Im Winter 1932 kam der Chef wegen Verwicklung in Pläne zur Ermordung einer führenden Persönlichkeit ins Gefängnis. Bis Juni 1936 war er in Haft. Protokolle der Gefängnisleitung und medizinische Aufzeichnungen existieren noch, gelegentlich hat er uns auch selbst davon erzählt. Zusammen ergibt sich folgendes Bild: Kurz nach seiner Inhaftierung begann er an Schlaflosigkeit zu leiden. Nicht an gewöhnlichen Schlafstörungen, wohlgemerkt, sondern an Insomnia ersten, wirklich kritischen Grades. Er tat drei, vier Tage, mitunter bis zu einer Woche, kein Auge zu. Damals presste die Polizei wegen politischer Vergehen Inhaftierte mittels Schlafentzug zum Geständnis. Im Falle des Chefs waren die Verhöre allein wegen seiner Verstrickung in die Reibereien der »Kaiserlichen« mit den »Kontrollisten« besonders brutal. Wenn ein Häftling einzuschlafen drohte, wurde er mit Wasser übergossen, mit Bambusstöcken traktiert, mit grellem Licht angestrahlt. Da bekommt man nur Fetzen von Schlaf. Nach ein paar Monaten sind die meisten am Ende. Das Schlafzentrum ist völlig zerstört. Man stirbt, wird verrückt oder findet einfach keinen Schlaf mehr: Insomnia ersten Grades. Der Chef ging diesen letzten Weg. Vollständig genesen war er im Frühjahr 1936, das heißt zur selben Zeit, als der Tumor sich bildete. Was schließen Sie daraus?«
»Sie meinen, der extreme Schlafentzug könnte auf irgendeine Weise die Blutzirkulation im Hirn gestört und zur Bildung des Tumors geführt haben?«
»Das ist die gängigste These, eine, auf die auch der Laie kommt und die sicher auch die
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