Wilde Wellen
Zeit des gegenseitigen Ignorierens? Obwohl Sabine immer mal wieder versucht hatte, Eva dazu zu überreden, sich Leon wieder anzunähern, sich zu benehmen wie eine erwachsene Frau, hatte Eva das immer vehement abgelehnt. Vielleicht, wenn Leon von sich aus auf sie zugegangen wäre ⦠vielleicht hätte sie es dann über sich gebracht, wenigstens einmal mit ihm zu reden. Aber da war nie ein Zeichen gekommen, dass Leon eine Versöhnung mit seiner Tochter wünschte. Kein Anruf, keine Mail, kein Brief. Er hatte sie abgeschrieben, und sie hatte das umgekehrt mit ihm auch getan. Dass sie manchmal, wenn sie Freunde oder Kollegen aus der Bank von ihren Eltern erzählen hörte, durchaus auch mal von einem heftigen Streit mit dem Vater, tief in ihrem Inneren den Wunsch verspürte, doch einmal mit Leon zu reden, hatte sie nie jemandem gesagt. Nicht einmal ihrer Mutter. Sie wollte Sabine nicht damit belasten, dass sie an manchen Abenden, wenn sie in Frankfurt allein auf der schicken Dachterrasse ihrer Wohnung saà und ein Glas Wein trank, eine unbestimmte Sehnsucht in sich fühlte, mit ihrem Vater zu reden. Den sie, bei allem, was sie gegen ihn hatte, für einen hervorragenden Geschäftsmann hielt. Im Gegensatz zu Sabine, die überhaupt kein Verhältnis zu Zahlen und zu Geld hatte, würde Leon sie verstehen, wenn sie aus ihrem Alltag in der Bank erzählen würde. Er würde die richtigen Fragen stellen. Würde vielleicht sogar eine Lösung für das eine oder andere Problem haben, das sie umtrieb. Sie vermisste ihren Vater. Aber das würde sie niemals zugeben.
Claire war angespannt, als sie aus dem Auto stieg. Die Vernissage war schon in vollem Gange. Sabines hübscher Garten und das Atelier waren voller Leute. Schnell schweifte ihr Blick über die plaudernden Gäste. Ob Eva da war? Es war hin und wieder vorgekommen, dass Leon auf einer von Sabines Vernissagen unerwartet vor seiner Tochter gestanden hatte. Claire hatte der wehe Blick ihres Mannes jedes Mal heftig zugesetzt. Diesen Wunsch, mit der verlorenen Tochter zu reden, sich mit ihr vielleicht sogar zu versöhnen, konnte sie nicht ertragen. Sie würde unter allen Umständen eine Situation verhindern, in der der Vater vor seiner Tochter stand und sie mit diesem flehenden Blick ansah und Eva sich einfach umdrehte und ihn stehen lieÃ. Diese Demütigung würde sie Leon ersparen.
Es war, als spürte Eva Claires Blick, der wie ein Suchscheinwerfer über Sabines Gäste wanderte. Als sie sich umdrehte, sah sie genau in Claires Augen. Ihr Lächeln war freundlich wie immer. Eva wollte sich umdrehen und gehen, wie sie es geplant hatte.
»Claire! Leon! Schön, dass ihr da seid.« Sabines erfreute Stimme drang an Evas Ohr. »Kommt, seht euch um. Ich bin gespannt, was ihr zu den Bildern sagen werdet.« Sie führte Leon und Claire ins Atelier. Eva sah, wie sie sich suchend umschaute. Nichts wie weg. Sie wollte ihrer Mutter den Abend nicht verderben.
»Liebes, da bist du ja.« Für Sabine war die Gelegenheit günstig wie nie. Sie drängte sich durch die Gäste und hielt Eva auf, die gerade ins Gästezimmer verschwinden wollte.
»Könntest du Leon und Claire bitte was zu trinken bringen? Ich muss mich um den Bürgermeister kümmern.«
Eva wusste, was Sabine vorhatte. »Ich bin gerade auf dem Weg zur Toilette, tut mir leid.« Sie winkte Marie, die mit einem Tablett voller Weingläser zwischen den Gästen durch mäanderte.
»Sei doch so nett und kümmere dich um Leon und Claire.« Nur schnell weg. Sie konnte einfach nicht mit Leon und Claire in einem Raum sein. Marie beobachtete, wie Eva hinter einer Tür verschwand. Doch bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ihr vielleicht folgen sollte, sah sie, dass sich Claire plötzlich schwer an Leons Arm hängte. Sein Blick war sofort besorgt. Und als sie ihre Stirn berührte und ihre Augen sich zusammenzogen, als würde sie etwas blenden, ging Leon schnell zu Sabine. Sagte ein paar Worte. Und dann führte er Claire aus dem Atelier. Sabine sah den beiden bedauernd nach. Es war deutlich, dass sie enttäuscht über diesen kurzen Besuch war.
»Marie.« Maries Herz schlug schneller. Paul. Wenn sie sich nur einfach hätte umdrehen und ihm um den Hals fallen können. Aber das war unmöglich. Seit er ihr gesagt hatte, dass er es für möglich hielt, dass ihr Vater an Célines Tod schuld
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