Wilde Wellen
weitergeht, setze ich mich nächstes Jahr zur Ruhe und übergebe dir die Firma.« Natürlich meinte er das nicht ernst. Er war zu jung, um auf dem Altenteil zu sitzen. AuÃerdem, die Firma war sein Leben. Er würde sie noch lange nicht einem Nachfolger übergeben.
»Und was willst du dann den ganzen Tag machen? Auf Wurftauben schieÃen?« Caspar grinste seinen Vater an. »Das Leben ist kein Spiel, Papa.«
Wenigstens nicht, wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag an nichts anderes dachte als an seine Fischfirma. An Fangquoten. Filettiermethoden, an Gewinnmaximierung und Expansion. Jedes einzelne dieser Worte lieà Caspar frösteln. Wie konnte ein Mensch nur sein ganzes Leben in einem Büro verbringen und sich mit Fisch beschäftigen? Okay, zweimal die Woche Fischsuppe oder gegrillte Seezunge, darüber lieÃe sich reden. Aber alles andere interessierte ihn nicht.
»Das war natürlich ein Scherz. Ich werde natürlich noch nicht aufhören. Im Gegenteil, ich freue mich darauf, mit dir zusammenzuarbeiten. Es gibt eine Menge, was ich dir beibringen will. Und natürlich bin ich auch gespannt darauf, was du für Ideen hast. Ich meine, ich verschlieÃe mich der neuen Zeit nicht. Also, wenn du neue Methoden einführen willst oder überhaupt Ãnderungsvorschläge hast â ich habe immer ein offenes Ohr für dich.«
»Danke. Das ist gut zu wissen. Aber im Moment bin ich ja quasi noch in der Lehrlingsphase.«
Caspar stellte sein Glas ab. Und diese Phase würde nicht allzu lange dauern. Schon sehr bald würde er mit Marie von hier abhauen. Sein Vater würde dann eben sehen müssen, wie er ohne ihn zurechtkam. Aber es würde ihm schon was einfallen, da war sich Caspar sicher.
Leon sah seinem Sohn nach, wie er die Treppe hinaufging. Das ferne Jauchzen des Kindes irrlichterte noch einmal durch den Raum. Wie schade, dass die Zeit so schell verging. Er hatte diesen kurzen Moment der Ruhe mit seinem Sohn genossen. Ein paar Minuten lang hatte er sein Problem tatsächlich vergessen. Doch jetzt packte es ihn mit umso gröÃerer Wucht. Wie konnte er sich darauf freuen, mit Caspar zusammenzuarbeiten, wenn die Gefahr bestand, dass seine Firma schon bald nicht mehr existierte? Was würde aus dem Jungen werden, wenn er, Leon, im Gefängnis saÃ? Was würde aus Claire werden? Sicher, die beiden waren jung. Claire hatte Kraft. Sie würde einen neuen Anfang finden. Aber Caspar? Der erst gerade seinen Platz im Leben gefunden hatte? Würde ihn die Tatsache, dass sein Vater ein Verbrecher war, aus den Schienen schleudern? Leon erinnerte sich noch genau an die Zeit, als er Angst haben musste, seinen Sohn an die Drogen zu verlieren. Er erinnerte sich an Claires Verzweiflung, wenn der Junge wieder einmal bewusstlos in seinem Zimmer lag. An die Fassungslosigkeit, als er aus der Entzugsklinik abgehauen war. Das war alles Vergangenheit, ja. Aber gab es eine Garantie, dass der Junge stabil war? Stabil genug für eine Erschütterung, die sein Leben komplett auf den Kopf stellen würde? Es war Leon in diesem Augenblick klar, dass er keine Wahl hatte. Er würde das Geld zahlen. Und er würde hoffen, dass der Erpresser es bei der einmaligen Zahlung bewenden lieÃ.
4
Sabines Ausstellungseröffnung war wie immer ein lokales Ereignis. Ihre Bewunderer kamen in Scharen in das idyllisch gelegene Atelierhaus, das sie sich vor Jahren in die Dünen gebaut hatte. Es war ein zauberhafter, sehr individueller Ort. Eine gläserne Oase der Ruhe, deren groÃe Fenster auf der einen Seite auf den Atlantik hinausgingen und auf der anderen Seiten auf den traumhaften Garten, der im Sommer von mannshohen rosaroten und himmelblauen Hortensienbüschen eingesäumt wurde, sodass es dem Besucher, der auf das Haus zuging, vorkam, als würde es in einer pastellfarbenen Wolke schweben. An einer Seite des Hauses wucherte eine alte englische Kletterrose bis aufs Dach, deren dunkelrote Blüten einen überwältigenden Duft verströmten. An diesem sonnigen Oktobertag scharten sich die Gäste überrascht vor Sabines neuen Bildern, die sie in Mexiko gemalt hatte und die von einer neuen Ãra ihres Schaffens kündeten. Lange war Sabines Werk von einer zurückhaltenden Melancholie geprägt gewesen. Vor allem ihre winterlichen Bilder des Finistère, der menschenleeren Strände, der graudunklen Wellen, über denen ein tiefer Himmel dräute,
Weitere Kostenlose Bücher