Wilde Wellen
Augenhöhlen geströmt und durch die aufgerissenen Münder, ihre knochig bleichen Arme hatten sich nach ihm gestreckt.
»Als Kind hab ich an die Schauermärchen geglaubt, die die Fischer erzählt haben. Aber ich sage dir, das ist alles Quatsch. Es gibt Wissenschaftler, die sagen, dass sich der Wind bei einer bestimmten Windrichtung in den Höhlen und Vorsprüngen der Felsen fängt und dass dadurch die unheimlichen Geräusche entstehen.«
Eigentlich war Marie bereit, diese Erklärung zu glauben. Ihr Verstand sagte ihr, dass das richtig sein müsse. Aber wenn sie daran dachte, welches Grauen die Schreie in ihr ausgelöst hatten, als sie sie zum ersten Mal gehört hatte, war sie sich nicht so sicher. Oder lag ihre Bereitwilligkeit, an übersinnliche Phänomene zu glauben, nur daran, dass sie so angeschlagen hier angekommen war? Sie hatte nicht gewusst, wer sie war. Sie hatte Grauenvolles erlebt. Sie hatte ihren Vater gefunden. Und verloren. War es da ein Wunder, dass sie sich von den Schreien beeindrucken lieÃ? Von dem Gedanken, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die sich rational nicht erklären lieÃen?
Claire hatte eine Schlaftablette genommen, als sie zum zweiten Mal durch das Klappern der Fensterläden, an denen der Sturm zerrte, aufgeweckt worden war. Sie tat das selten, aber heute hatte sie sich einen ruhigen Schlaf verdient. Sie wollte einfach nur wegdämmern in ihrem groÃen warmen Bett, wollte an nichts denken. Nur tief, tief schlafen. Dass Leon nicht neben ihr lag, beunruhigte sie nicht. Wahrscheinlich saà er im Salon und starrte in die wütende Nacht und hing seinen düsteren Gedanken nach. Irgendwann würde er zu ihr kommen. Würde seinen Arm um sie legen. Sie würde es spüren, auch wenn sie noch so tief schlief. Sie würde seine Unruhe spüren. Seine aufgewühlten Gedanken. Doch sie würde nicht wirklich aufwachen. Dieses Mal nicht. Sie wusste, dass der Spuk bald ein Ende haben würde. Und sie konnte sich darauf verlassen, dass auch Leon schon bald wieder ruhig sein würde.
Als sie aufwachte, war sie geblendet von der Sonne, die auf ihr Bett schien. Mit einem Lächeln dreht sie sich um. Wollte Leon mit einer Umarmung einen guten Morgen wünschen. Und war nun doch verblüfft, dass seine Seite des Betts immer noch unberührt war. Der Schlaf hatte sie erfrischt. Vielleicht konnte sie Leon überreden, heute mal die Arbeit zu schwänzen. Man musste diese letzten schönen Tage ausnutzen. Sie konnten nach Rennes fahren. Ein bisschen bummeln, dann in ihrem kleinen Lieblingslokal Steak und Pommes frites essen, danach vielleicht weiterfahren zu der Gärtnerei von Madame Satie, bei der sie immer die Pflanzen für den Park orderten. Sie wollte ein paar neue Rhododendronbüsche pflanzen und eine Reihe Lavendel am Weg zum Schloss entlang. Und vielleicht fand sie auch noch ein paar neue Rosensorten, die sie um den kleinen Pavillon am Ende des Parks gruppieren konnte. Sicher war Leon auf dem Sofa im Salon eingeschlafen. Sein Rücken würde ihm weh tun von der unbequemen Lage, in die einen das Sofa zwang. Als sie in ihren seidenen Morgenmantel schlüpfte, beschloss sie, dass sie Leon dazu überreden würde, sich von ihr massieren zu lassen. Auch wenn er sich immer ein wenig dagegen sträubte, weil er ihm missfiel, sich vor seiner Frau als schmerzgeplagter alter Mann outen zu müssen â am Ende gefiel ihm die Berührung durch Claires Hände doch. Und meistens führte die Massage dazu, dass er sich schlieÃlich umdrehte und Claires Hände mit einem wohligen Aufstöhnen festhielt. Es war ein kleines, neckisches Spiel zwischen ihnen, das darin endete, dass sie miteinander schliefen.
Doch als sie in den Salon kam, sah sie, dass er leer war. Die Kaschmirdecke über der Sofalehne war noch genauso akkurat zusammengefaltet wie am Abend zuvor. Kein Glas stand auf dem Tisch. Keine leere Weinflasche. Konnte es sein, dass Leon gar nicht nach Hause gekommen war?
»Guten Morgen, Madame. Wünschen Sie das Frühstück hier einzunehmen?« Mimi trat geräuschlos in den Salon.
»Hat mein Mann schon gefrühstückt? Dann bringen Sie mir bitte nur eine Tasse Kaffee und ein Biskuit.«
Als Mimi den Kopf schüttelte und sagte, dass sie Monsieur Menec heute Morgen nicht gesehen hatte, war Claire irritiert.
»Aber er ist gestern Abend doch nach Hause gekommen? Ich habe eine
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