Wilde Wellen
Sturm ums Leben gekommen. Und Leon war irgendwo an Land. Bei einem Kunden. Oder bei irgendeinem anderen wichtigen Termin. Vielleicht saà er ja gerade bei Michel im Gefängnis und wollte ihn überreden, sein Geständnis zurückzunehmen.
»Ich habe gesehen, wie er losgefahren ist. Ich hab noch gedacht, dass es schön ist, dass er die Yacht einmal wieder bewegt. Ich meine, es ist so ein schönes Schiff und es ist doch schade â¦Â« Marcel verstummte. Er zog die blaue Strickmütze vom Kopf und knetete sie verlegen in seinen Händen. Es war kein gutes Gefühl, Zeuge einer Katastrophe zu sein. Aber er musste es doch sagen, dass er seinem Chef gestern Abend begegnet war, als dieser zu seiner Yacht ging.
»Du hast ihn gesehen, Marcel?« Claires Stimme klang schrill. »Wieso hast du ihn nicht aufgehalten? Du hast doch gewusst, dass er aus der Ãbung ist. Alle habt ihr es gewusst. Er ist doch seit mehr als zehn Jahren nicht mehr auf dem Wasser gewesen!« Claires Entsetzen schlug in blanke Wut um. Sie riss Marcel am Ãrmel. »Wenn ihm etwas zugestoÃen ist, bist du schuld. Ich werde dich zur Verantwortung ziehen, ich werde dir das Leben zur Hölle machen, ich werde â¦Â«
Ihre Stimme schlug um und brach sich in einem Schluchzen. Marie und Caspar verständigten sich mit einem Blick. Caspar legte die Arme um seine Mutter und brachte sie zurück zum Auto. Die Blicke der Fischer und Polizisten folgten ihr, als sie sich wie willenlos ins Auto setzen lieÃ. Und in mehr als einem Kopf wuchs ein leises Gefühl der Genugtuung. Sollte das Schicksal tatsächlich einmal bei den Menecs zugeschlagen haben? Sicher, die meisten achteten Leon Menec. Viele von ihnen arbeiten in seiner Fabrik oder auf einem seiner Schiffe. Und keiner konnte sich beklagen, dass er kein guter Chef sei. Aber war es Leon Menec nicht immer ein wenig zu gut gegangen? Hatte er nicht ein bisschen zu viel Glück gehabt? Eine florierende Firma, eine schöne junge Frau, ein hübscher Sohn ⦠War das nun die ausgleichende Gerechtigkeit? Dass es auch die Reichen einmal traf? Die Schönen? Die, die immer auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen schienen?
»Arme Claire.« Violette, die Bedienung aus dem Café du Port sagte das leise. Und dachte gleichzeitig an ihren Chef, der im Gefängnis saÃ. Und zugegeben hatte, Céline getötet zu haben. Jetzt hatte er auch noch seinen Freund verloren.
Die Nachricht, dass Leon Menec auf See verschollen war, machte in Windeseile die Runde. Wie eine dunkle Welle drang der Schock durch die kleinen Gassen von Concarneau, schlug über den Köpfen der Menschen zusammen. Erst Céline, dann Michel, jetzt Leon. Es war zu viel. Wie kam es, dass das Unglück nicht aufhören wollte? Wen würde es als Nächstes treffen? Die Leute standen in den kleinen Läden zusammen und auf den Plätzen; manche fanden sich in der dunklen Kirche zu einem Gebet. Und alle hatten den Impuls, sich in ihre Häuser zurückzuziehen und den Kopf einzuziehen. In Erwartung des nächsten Schlags, der vielleicht einen von ihnen treffen würde.
Als Sabine und Eva die Bäckerei von Madame Souril betraten, verstummten die drei Frauen, die vor dem Tresen standen und gerade noch aufgeregt miteinander geredet hatte.
»Bonjour.« Es war klar, dass Sabine und Eva noch nichts von dem Unglück gehört hatten. Sie sahen entspannt aus und vergnügt, als sie das tägliche Baguette holen wollten. Doch ein Blick auf die erstarrten Gesichter der Frauen machte ihnen klar, dass es nicht wie sonst war.
»Ist der Brotpreis wieder gestiegen?« Nur einen kleinen Moment lang wollte Sabine glauben, dass es eine alltägliche Aufregung war, die die Kundinnen der Bäckerin beschäftigte. Doch schon in dem Moment, in dem sie ihre harmlose Frage stellte, wusste sie, dass es etwas Schlimmeres sein musste.
»Haben Sie es noch nicht gehört? Es tut mir so furchtbar leid für Sie. Und vor allem für Eva.«
Leon war zwar nur Sabines Exmann. Aber alle wussten, dass sie sich immer noch sehr gut verstanden. Und Eva hatte ihren Vater verloren. Auch wenn alle wussten, dass sie schon lange keinen Kontakt mehr hatten, er blieb doch ihr Vater. Und wenn er jetzt auf See ertrunken war, hatte die junge Frau keine Chance mehr, sich mit ihm zu versöhnen.
Es ging Sabine und Eva wie vielen Menschen, wenn sie vom Tod eines Freundes oder eines nahen Verwandten erfahren. Im
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