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Wilde Wellen

Wilde Wellen

Titel: Wilde Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Sadlo
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verschlossen. Ein kurzes Zögern. Dann trat sie ein. Was tat sie hier? Wieso wartete sie nicht vor der Tür? Marie spürte die Neugier in sich hochsteigen. Das Büro sah genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Kühle, moderne Möbel. Ein beeindruckend großer Schreibtisch aus dunklem Holz beherrschte den Raum. Wer hier saß, hatte einen grandiosen Blick auf den Hafen und das Meer. Fotos an den Wänden zeigten die Schiffe der Fischfangflotte, die Leon gehörte, ein anderes Foto zeigte ihn und den französischen Staatspräsidenten, als der Leon einen Orden an die Brust heftete. Und dann war da noch ein kleineres Schwarzweißfoto, das in einiger Entfernung von den anderen hing. Es hatte nicht die Hochglanzqualität der anderen Fotos. Das Schiff, das darauf abgebildet war, trug den Namen Helena . An der Reling stand ein junger Leon an der Seite eines entschlossen in die Kamera lachenden Mannes: Michel. Einen Moment lang wurden Maries Knie weich. Das war ihr Vater. Jung, mit einem verwegenen Blick. Glücklich. Ja. So hatte Michel Dumont also vor dem Unglück ausgesehen: aufrecht, selbstbewusst, lebenshungrig. So hatte sie ihren Vater in der ganzen Zeit, in der sie jetzt bei ihm war, nie gesehen. Und die Frau, die zwischen den beiden Männern stand, das musste Céline Marchand sein. Wie schön sie war mit ihren dunklen langen Haaren. Schlank, elegant in einem gut sitzenden kleinen dunkelblauen Kostüm, zu dem sie eine pinkfarbene Bluse trug, und Nagellack im genau demselben Farbton. Sie sahen aus wie eine eingeschworene Gemeinschaft, diese drei Menschen. Stolz und erwartungsvoll sahen sie einer großartigen Zukunft entgegen.
    Die mit dem Untergang des Schiffes nur ein Jahr später im Meer versank. Marie konnte den Blick nicht von dem Foto abwenden. Was war geschehen? Céline war tot. Der attraktive Kraftprotz neben ihr hatte gestanden, sie getötet zu haben. Der Einzige, dessen Leben nicht aus der Bahn geworfen zu sein schien, war der Dritte im Bunde, Leon Menec. Ihn hatte das Schicksal verschont. Wieso gerade ihn? Marie schalt sich eine Närrin. Diese Frage gehörte zu dem, was sie stets unter ȟberflüssig« abhakte. Zu fragen: »Wieso gerade ich?« oder »Wieso nicht der andere?« hatte sie stets als müßig empfunden. Weil es niemanden gab, der einem darauf antworten konnte. Und weil es keinen Trost brachte. Es konnte jeden jederzeit treffen. Durch eine unglückliche Verkettung von Umständen, die niemand voraussehen konnte. Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, das war die Erklärung, die zwar am unbefriedigendsten sein konnte, aber leider oft auch am zutreffendsten. Ein dunkler, stürmischer Herbstabend, eine Radfahrerin, die sich gegen den Wind und den Regen stemmte, ein Autofahrer, der vielleicht gerade etwas abgelenkt war. Das Ergebnis war ein tödlicher Unfall.
    Zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder war eine der Komponenten, die zu dem Unglücksfall geführt hatten, doch durch etwas zu ersetzen, durch das, das man Vorsatz nennen konnte? Jemand, der wusste, wann Céline mit dem Rad unterwegs sein würde? Der auf sie gewartet hatte? Und dann, als er sie im Scheinwerferlicht gesehen hatte, einfach aufs Gas getreten war? In einem kleinen Peugeot 403 aus dem Jahre 1957? Mord ist in fast neunzig Prozent der Fälle eine Beziehungstat. Einer der drei Menschen war tot. War doch einer der anderen der Täter? Aber wenn es Michel nicht war, was sie einfach nicht glauben wollte, blieb nur einer übrig: Leon. Leon Menec.
    Wieso sollte Leon Menec den Tod seiner Mitarbeiterin und Freundin gewollt haben?
    Marie schüttelte den Kopf, als hätte sie dadurch ihre verqueren Gedanken wieder in eine ordentliche Reihe bringen können.
    Wo blieb Leon? Inzwischen war es zehn. Sie gab ihm noch eine Viertelstunde. Wenn er bis dahin nicht auftauchte, würde sie wieder gehen.
    Sie tat, was man so tat, wenn man warten musste. Ging ein paar Schritte in die eine Richtung, ein paar in die andere. Ihr Blick schweifte über den Schreibtisch, über die Regale an der Wand. Sie versuchte, die Beschriftungen der Ordner, die in den Regalen standen, zu entziffern. Sie waren nach Jahrgängen geordnet. Bis 2004. Wahrscheinlich Geschäftsberichte. Die ab 2004 dann elektronisch erstellt und elektronisch gespeichert wurden. Andere Ordner trugen Aufschriften wie Saline und Pamina … Anscheinend Namen von Schiffen. Sie

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