Wilde Wellen
Reisen war.
»Nein, Leon. Ich verstehe dich nicht.« Ihre Stimme war ruhig. Ihr Blick entschlossen.
»Was soll das? Claire? Was hast du vor?« Er konnte nicht glauben, dass sie das tun würde. Sicher wollte sie ihm nur Angst einjagen. Aber auf ihn schieÃen, das würde sie nicht tun.
»Du hättest nicht zurückkommen sollen.« Ihre Augen glänzten kalt und fremd, als sie die Waffe entsicherte. Leon sah sie ungläubig an. Als der Schuss fiel, warf er sich zu Boden. Doch sie hatte ihn getroffen. Bevor sein Körper auf dem polierten Parkett aufschlug, waren ihm schon die Sinne geschwunden.
9
Marie lag zusammengekrümmt im FuÃraum des Bulli. Ihr Kopf schmerzte von den Schlägen, die ihr Caspar versetzt hatte. Die Plastikbänder, mit denen er ihre Hände und FüÃe zusammengebunden hatte, schnitten tief in ihr Fleisch. Der Knebel füllte ihren Mund aus, sodass sie nur durch die Nase atmen konnte. Es war unfassbar, dass ihr das passierte. Dass dieser Junge, den sie zu kennen glaubte und den sie ungeheuer sympathisch gefunden hatte, sie mit Gewalt verschleppen wollte. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass das, was sie für freundschaftliche Gefühle gehalten hatte, umgeschlagen war in einen psychotischen Wahn? Aber er war einfach immer nett gewesen und freundlich. Wie ein guter Freund. Sicher, er hatte sie vielleicht einmal zu oft berührt. Sein Blick war möglicherweise auch zu verlangend tief gewesen. Und hatte nicht Paul auch gesagt, dass Caspar in sie verliebt sei. Aber gab es so etwas nicht immer wieder einmal? Dass jemand in einen anderen verliebt war und begreifen musste, dass der andere seine Gefühle nicht erwiderte? Das war der Lauf der Welt. Man hatte sich damit abzufinden, dass nicht immer alles so lief, wie man es sich wünschte. Aber Caspar konnte sich anscheinend nicht abfinden. Plötzlich lief es Marie kalt den Rücken herunter. Hatten seine Augen nicht merkwürdig geleuchtet, als er ihr erzählt hatte, dass Paul tot sei? Konnte es sein? Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken ⦠Aber dass sie hier in Caspars Auto geknebelt und gefesselt auÃer Gefecht gesetzt war, machte doch deutlich, wozu Caspar in seinem Wahn fähig war. Er betrachtete sie als sein Eigentum, das hatte sie inzwischen begriffen. Jedes Mittel war ihm recht, sie an sich zu binden. War ihm auch jedes Mittel recht gewesen, den Mann auszuschalten, den er als seinen Nebenbuhler empfinden musste? Konnte es sein, dass er der anonyme Anrufer bei der Polizei gewesen war, der von Pauls Unfall berichtet hatte? Marie schossen die Tränen in die Augen. Konnte es sein, dass er Paul von der Klippe gestoÃen hatte. Sie musste ihn dazu bringen anzuhalten. Und sie loszubinden. Sie musste versuchen zu fliehen. Musste versuchen, Paul zu finden. Wenn er wirklich von der Klippe gestürzt war, vielleicht lebte er ja noch? Vielleicht konnte er noch gerettet werden? Sie begann mit den FüÃen gegen den Boden zu schlagen. Wenn Caspar doch endlich aufhören würde, diese verdammte Beach-Boys- CD zu spielen. Dann würde er sie hören. Er würde denken, dass sie austreten musste. Anhalten. Ihre Fesseln, zumindest die an den Füssen lösen. Und sie konnte versuchen wegzulaufen. Doch Caspar reagierte nicht auf das Klopfen. Das Einzige, was er hörte, waren die Songs der Surferband, die von Sonne und ewigem Glück am Strand erzählten.
Michel trat in einen Hauseingang, als ihm Caspars auffälliger Bulli durch die enge Gasse entgegenkam. Viel zu schnell fuhr der Junge wieder mal. Die Leute spritzten vor ihm weg wie die Hasen.
»Langsamer, Caspar, du bist hier nicht auf der Autobahn.« Er winkte dem Jungen, der das Fenster herunterkurbelte und ihn entschuldigend anlächelte.
»Sorry, Mann, ich war mit meinen Gedanken woanders.«
Ihr Vater. Marie hörte die Stimme ihres Vaters und versuchte verzweifelt, seine Aufmerksamkeit zu erregen. So heftig sie konnte, schlug sie mit den FüÃen gegen Autoboden. Versuchte, trotz des Knebels zu schreien. Doch Caspar drehte einfach die Musik höher. Und Marie wusste, dass Michel, wenn er das Klopfen ihrer FüÃe tatsächlich hören würde, es höchstens als die wummernden Bässe der Musik wahrnehmen würde.
»Ciao, Michel.« Caspar strahlte Maries Vater an. »Machâs gut.«
»Ja, du auch. Ach, und falls du Marie sehen solltest, könntest du ihr sagen, dass sie sich
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