Wildhexe 1 - Die Feuerprobe
Oscar. »Warum warst du nicht in der Schule?«, stand da. Ich war mir nicht sicher, was ich darauf antworten sollte, es schien mir ein bisschen zu kompliziert, ihm zu erklären, dass mich eine Katze gekratzt hatte und ich deshalb vielleicht krank werden würde. Schließlich schrieb ich einfach »Krank :-(«, auch wenn es nicht stimmte – noch nicht jedenfalls.
In dieser Nacht träumte ich von dem Kater. Er wartete am Fahrradkeller auf mich, genau wie er es in Wirklichkeit getan hatte. Aber statt mich anzugreifen, dehnte er seinen Körper zu einem langen, hochzufriedenen, geschmeidigen Katzenstrecken und gähnte, sodass ich alle seine Zähne sehen konnte. »Jetzt gehörst du mir«, sagte er und leckte sich mit seiner rosa Zunge das Maul. »Mir, mir, mir …«
»Mama?«
»Ja, mein Schatz?« Mit einem Ruck setzte sie sich in ihrem Bett auf, so wach, dass ich nicht sicher war, ob sie überhaupt geschlafen hatte.
»Mama, ich glaube, ich habe Fieber …«
Meine Stirn pochte, und meine Arme und Beine fühlten sich lang und unbeweglich an, als wären sie nicht ordentlich am Körper befestigt. Das Licht von Mamas Nachttischlampe bohrte sich durch meine Augen ins Hirn. Ich machte die Augen für einen Moment zu, aber das war auch nicht besser, denn mir wurde sofort schwindlig und ich verlor fast das Gleichgewicht.
Mama zog mich auf die Bettkante und legte mir eine Hand auf die Stirn.
»Du glühst ja«, sagte sie. »Hast du Schmerzen?«
»Ja.«
»Leg dich hierher. Ich rufe den Notdienst an.«
Aber der Notdienst machte sich offenbar nicht auf den Weg, nur weil eine Zwölfjährige ein bisschen Fieber hatte. Ich lag in Mamas Bett und hörte, wie sie ins Telefon schimpfte. Ihre Stimme klang weit entfernt und seltsam wattig, obwohl sie fast direkt neben mir saß.
»Aber das Penicillin wirkt ja nicht«, sagte sie. »Sie hat über 40 Fieber!«
Ich döste ein wenig. Es roch so schön sauber und vertraut nach frisch gewaschenen Laken und Mama und Mama-Shampoo, aber ich wagte es trotzdem nicht, richtig einzuschlafen. Der Kater war die ganze Zeit da, das konnte ich spüren. Er lauerte in meinen Träumen.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Nein, danke …« Mein Hals war heiß und tat weh, und ich hatte überhaupt keine Lust, etwas Kaltes zu schlucken, obwohl ich eigentlich ziemlich durstig war.
»Aber es wäre gut, wenn du etwas trinken würdest. Cola? Saft?«
»Dann ein bisschen Saft.«
Sie brachte mir welchen und ging zurück in die Küche. Ich hörte, wie sie Wasser für Kaffee aufsetzte. Sie hatte ihr Handy mitgenommen und rief irgendwo an.
»Hier ist Milla Ask. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss unbedingt mit meiner Schwester sprechen …«
Dann machte sie die Tür zu, und ich konnte den Rest nicht mehr verstehen. Aber selbst im Fiebernebel wunderte ich mich. Ich wusste natürlich, dass Mama eine große Schwester hatte, aber ich war ihr noch nie begegnet. Es war mir absolut schleierhaft, warum Mama nachts um zwei versuchte, ausgerechnet sie zu erreichen. War sie etwa Ärztin? Nein, fiel mir ein, Tante Isa lebte von ihren Zeichnungen. Wir hatten einmal in einem Schaufenster Karten gesehen, auf denen ein paar sehr lebensechte Enten abgebildet waren. »Isa Ask Design«, hatte auf einem großen Schild gestanden, und die Karten waren schweineteuer gewesen. »Schau mal, die heißt auch Ask«, hatte ich gesagt und auf das Schild gezeigt. Damals war ich noch jünger gewesen, vielleicht acht oder neun. »Das liegt daran, dass sie deine Tante ist«, sagte Mama. Aber sie wollte die Karten nicht kaufen, und als ich fragte, ob wir Tante Isa nicht mal besuchen könnten, murmelte sie nur, dass Isa »sehr, sehr abgelegen« wohnte – als ginge es um die Äußere Mongolei und als wäre sie ausschließlich mit dem Hundeschlitten oder einem Helikopter zu erreichen.
Das war alles, was ich von meiner Tante Isa wusste. Weshalb also war es jetzt plötzlich »unbedingt« nötig, mit ihr zu sprechen?
Müde schloss ich die Augen. Es war mir eigentlich auch viel zu anstrengend, darüber zu spekulieren. Aber in der Dunkelheit hinter meinen Augenlidern konnte ich die Katze singen hören: Mir, mir, mir … Ich machte die Augen wieder auf. Ich glaube, ich weinte sogar ein bisschen, vor allem weil ich so müde war, mich aber nicht traute zu schlafen.
Auf der anderen Seite der geschlossenen Küchentür war Mamas Stimme laut und zornig geworden. Ich konnte noch immer nicht jedes Wort verstehen, nur irgendetwas mit
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