Wildhexe 1 - Die Feuerprobe
tun haben sollte. Aber als sie schließlich doch etwas sagte, war deutlich zu hören, dass sie nicht die Spur verwirrt, sondern nur wütend und ängstlich war.
»Sie ist nicht wie du«, sagte sie. »Sie ist ein liebes, kluges und normales Mädchen.«
Tante Isa schaute Mama lange an. »Ich denke nicht, dass wir das jetzt diskutieren müssen«, sagte sie. »Stattdessen sollten wir das Fieber senken und zusehen, dass wir die Kleine wieder auf die Beine bekommen.«
Ja, danke, dachte ich. Und wenn ihr die Kopfschmerzen vielleicht gleich auch noch verschwinden lassen würdet …
Tante Isa nahm den Deckel vom Topf und füllte mit einem großen Schöpflöffel etwas Flüssigkeit in einen Becher, den sie mir reichte.
»Hier«, sagte sie. »Es schmeckt ein bisschen bitter, aber es hilft.«
»Was ist das?«, fragte Mama misstrauisch.
»Krötengift und Natternspucke«, sagte Tante Isa. »Was dachtest du denn?«
Ich schaute erschrocken auf, aber dann bemerkte ich das Funkeln in ihren herbstbraunen Augen.
»Keine Sorge«, sagte sie beruhigend. »Ich wollte deine Mutter nur ein bisschen aufziehen. Es ist ein Tee aus Weidenrinde und Kräutern, der dem Penicillin ein bisschen auf die Sprünge helfen wird. Wenn du ausgetrunken hast, streiche ich dir ein bisschen über den Nacken und deinen Kopf. Das alles zusammen wird dir guttun.«
Und das tat es. Das Krötengift, oder was es auch war, schmeckte wirklich abscheulich, aber dann setzte Tante Isa sich zu mir auf das Sofa, legte meinen Kopf in ihren Schoß und fing an, mit ihren Fingern fest und sanft meinen Hals entlangzustreichen, über den Nacken bis hoch in die Haare. Es fühlte sich seltsam an, fast so, als würde sie mit jeder ihrer Bewegungen ein Stück des Kopfwehs wegnehmen. Und als sie ihre Finger auf meine Stirn legte, die von der Verletzung ganz geschwollen war, tat es kein bisschen weh.
Während ihre Finger arbeiteten, summte sie eine Melodie, die seltsam ruckhaft anstieg und abfiel; das war eindeutig kein Lied, das ich kannte. Manchmal klang es fast so, als könnte sie zwei Töne gleichzeitig singen, einen tiefen und einen hohen. Ich weiß nicht warum, aber ich musste an Wind und Regen denken und an den Duft von Herbstlaub. Mitten in alldem hörte ich eine Tür schlagen. Ich öffnete die Augen, die mir eigentlich fest und gründlich zugefallen waren.
»Mama?«
»Sie kommt bald wieder rein«, sagte Isa. »Das alles hier mit Kräutern und Wildgesang liegt ihr nicht so.«
»Wildgesang?«
»Schhhh. Denk nicht so viel. Darüber können wir später immer noch sprechen.«
Schließlich waren meine Kopfschmerzen wirklich verschwunden. Und als ich einschlief, lauerte keine Meerkatze mehr in den Schatten.
4 BLAUMEISEN UND VOGELSCHEUCHEN
Als ich aufwachte, war das Fieber weg. Dafür bekam ich jetzt fast keine Luft mehr. Etwas Großes, Warmes und Pelziges lag auf meinem Brustkorb und hechelte mir ins Gesicht. Als ich die Augen aufmachte, schaute ich geradewegs in ein faltiges, weiß-braun gesprenkeltes Hundegesicht.
»Hallo«, flüsterte ich. »Entschuldige, aber könntest du vielleicht …«
Ein Schwanz klopfte auf die Decke, und eine warme rosa Zunge schlabberte begeistert über meine Wange.
»Tumpe«, rief Tante Isa. »Runter!«
Widerwillig schob er sich ein paar Zentimeter in Richtung meiner Füße zurück.
»Ganz runter!«
Ein tiefes, nasses Seufzen. Dann rutschte der große Hundekörper vom Bett, und ich konnte wieder atmen.
»Tut mir leid«, sagte Tante Isa. »Tumpe ist fürsorglicher, als er klug ist. Er hat überhaupt kein Gespür dafür, wie groß er eigentlich ist.«
Tumpe wedelte so begeistert, dass Isa ein paar Tassen davor retten musste, vom Couchtisch gefegt zu werden, und er hatte offensichtlich keine Ahnung, dass er gerade kritisiert worden war. Ich musste lachen. Wie ich später herausfand, hatte Tumpe diese Wirkung auf die meisten Menschen – jedenfalls auf solche, die Tiere nicht grundsätzlich hassten. Er war einfach unübersehbar ein großer, fröhlicher Hund und er liebte alles und jeden, besonders diejenigen, die Lust hatten, mit ihm zu reden und ihn hinter einem seiner weichen braunen Ohren zu kraulen.
»Ist Tumpe ein Bernhardiner?«, fragte ich.
»Das musst du seine Eltern fragen, ich weiß es nicht«, sagte Isa gelassen. »Man hat ihn mir gebracht, nachdem man ihn mit gebrochenem Vorderlauf gefunden hatte. Er war weder gechipt, noch war sein Ohr tätowiert, sodass wir nicht herausfinden konnten, wohin er gehörte. Also wohnt er
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