Wildhexe 1 - Die Feuerprobe
Seifenschaum lag der Schnee auf den knorrigen Ästen, der Weg, dem wir folgten, war nicht mehr als ein Trampelpfad und der Himmel, den ich über den dunklen Baumwipfeln erspähen konnte, war dunkelgrau von noch mehr Schnee. Hoch über uns ertönten heisere Vogelrufe und schneenasse Flügelschläge, aber es waren keine Saatkrähen wie zu Hause bei Tante Isa, diese Vögel waren viel größer.
»Oh nein«, seufzte Kahla sehr leise. »Hier ist ja schon Winter …«
Man konnte ihrer Stimme deutlich anhören, wie sehr sie fror, und mitten in alldem tat sie mir plötzlich furchtbar leid.
Einer der großen Vögel flog so dicht über Stjernes Ohren vorbei, dass ich jede einzelne Feder erkennen konnte. Sein Schnabel war genauso lang wie meine Hand, seine Augen glänzend und kohlschwarz. Es waren Raben, die über uns kreisten, und ich hatte das kribbelnde Gefühl, dass sie uns nicht nur beobachteten, sondern sich auch über uns unterhielten. Hinter meinem Rücken rekelte sich der Kater und sprang dann leichtfüßig und geschickt auf den Boden.
»He, wo willst du hin?«, fragte ich, aber er streckte sich nur ein zweites Mal und verschwand dann zwischen den Bäumen.
»Katzen gehen ihre eigenen Wege«, sagte Meister Millaconda. »Wenn du dir so eine als Wildfreund aussuchst, hast nicht du eine Katze bekommen, sondern die Katze dich.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir überhaupt einen Wildfreund ausgesucht habe«, sagte ich.
»Siehst du – da hast du es schon. Katzen entscheiden selbst.«
Der Schnee war so dicht, dass Frau Pomeranze vom Fahrrad steigen und schieben musste.
»Dieser Weg wird auch immer länger«, murmelte sie.
»Wir sind gleich da«, sagte Tante Isa. »Schau – man kann schon die Vögel sehen, die über dem Rabenkessel kreisen.«
Sie hatte recht. Vor uns, vielleicht einen halben Kilometer entfernt, war der Himmel voller Vögel. Der Großteil war Raben, aber auch kleinere Umrisse waren zu erkennen – nach den Tausenden heiseren Schreien zu urteilen, die die Luft erfüllten, waren es Krähen, Saatkrähen und Dohlen. Das Ganze sah aus wie ein Vogelsturm – ein Tornado aus schwarzen Vögeln. Das war dann wohl der Grund, weshalb man diesen Ort den Rabenkessel nannte.
Zumindest erklärte es die Sache mit den Raben. Das mit dem Kessel verstand ich erst, als wir etwas näher gekommen waren. Der Pfad mündete in einer Wagenspur, und die Wagenspur wurde zu einem Hohlweg, der mich ein bisschen an den Weg zu Tante Isas Haus erinnerte. Er grub sich immer tiefer nach unten, und die Böschung wurde immer steiler, bis wir schließlich einen offenen Platz erreichten. Wir standen auf dem Grund eines kesselförmigen Kraters, in dessen Mitte ein Ring aus Bäumen wuchs. Überall in der Kraterwand befanden sich Fenster und Türen, hinter denen sich offenbar Höhlen oder Häuser verbargen. Licht strömte durch die Fensterscheiben, und es duftete nach Holzfeuer und irgendetwas Essbarem.
Als wir die Mitte des Platzes erreicht hatten, wurde es still. Die zahllosen Tornadovögel hörten auf zu rufen und landeten mit rauschenden Flügeln in den Bäumen, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet. Schwarze Vogelaugen beobachteten uns von allen Seiten. Da konnte man schon ein bisschen nervös werden, bei so vielen Augen und so vielen Schnäbeln.
Dann öffnete sich eine Tür, und eine große, schwarzgekleidete Frau trat auf den Kraterplatz.
»Guten Abend«, sagte sie. »Seid willkommen. Wo ist die Neue?«
»Hier«, sagte Tante Isa. »Das ist meine Nichte Clara Ask. Clara, das ist Thuja, sie steht dem Rat der Rabenmütter vor.«
Einer der Raben flatterte vom Baum und setzte sich auf Thujas Schulter. Er war so groß, dass er ihren Kopf deutlich überragte. Er schaute mich eingehend an.
»Oh ja. Jetzt sehe ich es. Sie ähnelt dir ein wenig, Isa.«
Aber Thuja hatte mich überhaupt nicht angeschaut. Sie hatte ihr Gesicht noch immer dem schneegrauen Himmel zugewandt, und ihre Augen waren geschlossen. Plötzlich begriff ich, dass sie blind war. Aber woher wusste sie dann, dass ich Isa ähnlich sah?
Weil sie durch die Augen des Raben sehen konnte. Das war die einzige Erklärung, die mir einfiel. Ich fröstelte auf eine Weise, die nichts mit dem Schnee zu tun hatte.
»Lasst uns zunächst den ernsten Teil hinter uns bringen«, sagte sie. »Clara Ask, du willst Anklage gegen eine Hexe der Wilden Welt erheben. Ist das richtig?«
Ich wurde schon wieder ganz unsicher, vielleicht, weil sie so ernst war.
»Ja«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher