166 - Medusenfluch
Wenn Melissa Geburtstag hatte, war immer etwas los im Haus der Daltons; dann ging es hoch her, denn der reiche Whisky-Hersteller Robert Dalton ließ sich das stets eine schöne Stange Geld kosten.
Schließlich war Melissa seine einzige Tochter, und er wollte ihr etwas bieten. Er arbeitete hart, und er wußte, wofür: für seine Familie, der es an nichts fehlen sollte.
Eigentlich bekam die Familie nur von einem zuwenig: von ihm, denn er nahm seinen Job sehr ernst und delegierte nichts, sondern hielt alle Zügel selbst fest in seiner kräftigen Hand.
Er leitete die Firma umsichtig und familiär. Seine Angestellten konnten jederzeit mit ihren Sorgen zu ihm kommen, und in den meisten Fällen half er entweder mit Rat oder Tat.
Er war für seine Leute immer da, und umgekehrt war es genauso. Einer für alle, alle für einen. Das war das Geheimnis des Erfolges der Dalton-Whiskybrennerei.
Und wenn Melissa Geburtstag hatte, quoll das große Haus der Daltons über von Gratulanten. Melissa war der Liebling aller, und sie liebte die, die sie mochten. Sie badete förmlich in diesem Glück, das sie an solchen Tagen umbrandete.
Seit einiger Zeit waren diese Feiern gleichzeitig auch ein buntes, rauschendes Kostümfest. Man kleidete sich wie vor 100 Jahren und tanzte die alten Tänze.
Heute war Melissa 20 geworden, ein herrliches Alter. »Eine Knospe hat sich geöffnet«, hatte einer der Redner gesagt. »Wir waren dabei, als aus dem Kind ein Mädchen wurde, und wir sind nun dabei, wenn aus dem Mädchen eine junge, hübsche Frau wird, und wir hoffen, daß wir dich noch lange auf deinem Lebensweg begleiten dürfen, liebe Melissa.«
Sie hatte seit zwei Monaten einen Freund – Jim Harvey hieß er, und sie liebte ihn sehr. Jim war so lustig, immer zu Späßen aufgelegt. Er konnte kaum mal ernst sein, und Melissa hatte sehr viel Spaß mit ihm.
Sie tanzte mit Jim, bis sie völlig außer Puste war. Mit geröteten Wangen und glänzender Stirn stöhnte sie: »Ich kann nicht mehr, ich gebe auf.« Sie lachte und sah Jim bewundernd an. »Eine Kondition hast du – sagenhaft.«
Er grinste. »Wer Fußball spielt, hält einiges aus.«
»Du verlangst hoffentlich nicht von mir, daß ich anfange, auch Fußball zu spielen.«
Er tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze. »Es genügt mir, wenn du bei unseren Spielen auf der Tribüne sitzt.«
Jim sah auffallend gut aus, hatte dunkelblondes Haar und graue Augen. Er war Melissa in einem Kaufhaus begegnet.
Natürlich in der Sportabteilung – wie könnte es anders sein?
Melissa hatte gedacht, er wäre der Verkäufer, und ließ sich die Fitneßgeräte erklären. Er hatte das sehr fachkundig getan.
Als sich dann herausstellte, daß er nicht der Verkäufer war, hatten sie beide gelacht, und Melissa hatte Jims Einladung zum Tee angenommen.
Seitdem waren sie zusammen, und Melissa war glücklich, Jim begegnet zu sein.
Während des Tanzens hatte Melissa das Gefühl gehabt, als würde sie jemand beobachten. Natürlich schaute man sie an, schließlich war sie an diesem Abend der Mittelpunkt, um den sich alles drehte, aber diese Blicke, die sie spürte, schienen Feindseligkeit auszustrahlen.
Das junge Mädchen fächerte sich mit der Hand Luft zu. »Sei lieb und besorge mir etwas zu trinken, Jim«, bat sie.
»Natürlich.«
»Etwas Alkoholfreies, wenn möglich – oder nur mit ganz wenig Alkohol. Ich möchte, daß mich dieses Fest berauscht und nicht der Champagner.«
»Ich werde sehen, was sich auftreiben läßt.«
»Eisgekühlt sollte es sein.«
Er grinste. »Sonst noch Wünsche?«
»Ja, wenn möglich nicht zu süß, denn das verklebt einem den Mund.«
»Na, dagegen habe ich etwas – weil ich dich nämlich nach draußen entführen und küssen möchte.«
Sie lächelte. »Gute Idee. Ich geh' schon mal vor.«
Während sich Jim entfernte, um das gewünschte Getränk für seine Freundin aufzutreiben, begab sich Melissa auf die große, dunkle Terrasse.
Die scharf gezeichnete Sichel des zunehmenden Mondes war von funkelnden Sternen umgeben, der Himmel wirkte wie mitternachtsblauer Samt.
Melissa vernahm ein leises Geräusch, und als sie sich umdrehte, erblickte sie eine bildschöne Frau, die ein bodenlanges blutrotes Kleid trug.
Es war dezent dekolletiert und von der Taille abwärts sehr weit.
Die Ärmel wirkten bis knapp unter die Ellenbogen aufgeplustert, und an den Schultern ragten zwei spitze
»Stoffohren« hoch – die vage Andeutung eines Stehkragens.
Sehr attraktiv war die
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