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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Zahrnt
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abwehrend die Hände. „Was für eine tolle Überraschung, dass wir noch mal fliegen! Und mit so einer kleinen Maschine! Aber ... was ich schon die ganze Zeit fragen wollte ... ist das nicht sehr teuer?“
    „Die Damen sind selbstverständlich eingeladen.“
    Jan schluckte. Greg zahlte – und Michael hatte ausgehandelt, dass sie das als gemeinsames Geschenk präsentieren würden. Nicht einmal für seinen eigenen Platz musste Jan aufkommen. Alles perfekt, nur fühlte er sich irgendwie unwohl in seiner Haut.
    Er wählte das Violinkonzert Tschaikowskys, das er sich für besondere Anlässe reservierte. Die Geige spielte ihr Solo und jetzt kam die Stelle, an der er immer das Gefühl hatte abzuheben. Sein Geist drehte Pirouetten, wiegte sich in der retarierenden Phrase, holte Anlauf und – er sah Anna vor sich tanzen.
    Natürlich! Er nahm einen Ohrstöpsel heraus, drehte sich auf dem Sitz um – und wieder zurück. War das zu dreist? Nein, es war einfach eine nette Geste: Er hatte an sie gedacht und wollte etwas Schönes mit ihr teilen.
    Also schob er den Ohrstöpsel auf der Fensterseite an der Kopflehne vorbei nach hinten. Er wartete. Ihre Finger berührten seine. Sie zog leicht am Kabel, er gab nach und rutschte mit dem Kopf bis ans Fenster. Aus den Augenwinkeln sah er ihre schwarzen Locken neben sich. Nun war er wirklich im Himmel.
    Vor ihnen zerschnitt ein dunkles, glattes Tal die Gebirgskette: ein See, der sich bis an die Felswände erstreckte. Der Pilot hatte seinen Sinn für Dramatik nicht verloren und stieß hinab wie ein Raubvogel auf einen Fisch, fing ihren Sturzflug ab und schoss mit ihnen knapp über der Wasseroberfläche dahin.
    Das Tal verengte sich zu einer Schlucht, vollzog eine scharfe Biegung und öffnete sich unvermittelt auf ein Plateau. Welch Anblick! Die Sonne funkelte im See, der auf ihrer Seite aus mehreren schattigen Zuflüssen gespeist wurde. Auf der anderen Seite stiegen Wiesen und Wälder in sanften Schwüngen hinauf, bis Fels und Eis wieder die Herrschaft übernahmen.
    Das Flugzeug überquerte den See, drehte eine Schleife über dem von Tümpeln und Bächen durchsetzten Uferbereich, flog wieder hinaus aufs Wasser und landete in einer Gischtwolke.
    „Das wär‘s“. Der Pilot, der während des gesamten Fluges geschwiegen hatte, steuerte sie zu einem schmalen Steg und vertäute das Flugzeug. Dann stellte er sich auf eine der Kufen, öffnete das Gepäckfach am Heck und reichte Rucksäcke, Taschen, Plastiktüten und eine Tonne heraus, die Michael und Jan gerade so zu zweit in Empfang zu nehmen vermochten. „Verdammt viel Zeug für einen Monat“, grummelte der Pilot und schwang sich ins Cockpit. Schon surrten die Motoren wieder und das Flugzeug glitt auf seinen Kufen davon, immer schneller, bis es in der Luft hing und in einer geraden Linie zurück zu den Bergen entschwand.
    Jan fühlte sich verlassen und seltsam gefährdet.. Seit ihrem Aufbruch vor zwei Tagen waren sie ständig unter Menschen gewesen: im vollbesetzten Airbus, im Gedränge der Flughäfen von Seattle und Anchorage, im Bus – und bis eben hatte sie immerhin noch ihr wortkarger Pilot begleitet. Überall hatte sie die Zivilisation bedrängt, mit Technologie und Medien, vom Aufwachen durch die Lautsprecheransagen bis zum Eindösen vor dem Video-Bildschirm. Und jetzt?
    „Endlich allein! In der Natur!“, rief Michael. Hinter dem Schilf flogen Enten auf. „Hier sind wir!“, setzte er mit der ganzen Kraft seiner tiefen Stimme nach, als ob er das Tal vorwarnen wollte, damit es einen würdigen Empfang bereite. Alle begannen zu reden und zu lachen und fielen sich in die Arme. Sogar Laura und Anna drückten sich.
    „Okidoki, gehen wir zum Angriff über!“ Greg schulterte seinen Rucksack, packte die Tonne – und blieb nach einem Schritt stehen. „Fass mal einer mit an!“
    Jan übernahm den anderen Griff. „Was da nur drin ist?“
    „Diesel.“
    „Haben wir etwa einen Jeep?“
    „Quatsch, hier kommst du nicht einmal mit einem Buggy weit. Der ist für den Generator.“
    „Damit können wir vier Wochen lang Strom erzeugen?“
    „Natürlich nicht. Dafür haben wir eine Solaranlage. Nur für alle Fälle, falls die Batterie zum Beispiel am Arsch ist, gibt es auch einen Generator. Wahrscheinlich ist noch Diesel im Tank, aber der Besitzer war sich nicht sicher.“
    Jan stellte eifersüchtig fest, wie viel Greg wusste. Ihm gegenüber hatte Michael in den letzten Wochen fast so ausweichend geantwortet wie bei den Mädchen. Sie

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