Wildnis
mit ‚You are too sexy for this phone.‘“
Sie griff danach, doch er hielt es über seinem Kopf außerhalb ihrer Reichweite.
„Mein Handy ist zu sexy für dich. Rück es raus!“
„Ruhig, nicht meutern. Wir suchen das Erlebnis, die Intensität. Dafür müssen wir ganz hier ankommen, ohne Handys und solch modernen Schnickschnack.“
„Das hast du schön gesagt, du fescher Naturbursche! Und was ist mit deinem Rasierer, ist das etwa kein Schnickschnack?“
„Wo ist das Problem mit einem Rasierer?“
„Gib du mir deinen Rasierer, dann darfst du mein Handy behalten.“
„Hast du etwa keinen Rasierer?“
„Willst du wirklich, dass ich dir meinen Rasierer gebe?“ Laura und Jenny kicherten.
Alle gingen zurück ins Haus, Laura sammelte die Rasierutensilien der Jungs ein, Michael sämtliche Handys und Uhren. Dann brachen sie auf.
Die Wiese um das Haus endete dreißig oder vierzig Meter oberhalb im Wald, an den Seiten war der Abstand etwas geringer. Sie gingen den sanften Hügelrücken hinauf, eine kleine Mulde hinunter und an einem Rinnsal entlang, bis zu dessen Ursprung zwischen moosigen Felsen. Sie behielten ihre nördliche Richtung bei, nun in steilerem Wald, der schließlich an einem Geröllfeld auslief, das ihnen freie Sicht auf ihr Tal bot.
Von Westen nach Osten erstreckte sich der See über mindestens zwanzig Kilometer. Im Westen reichten die Steilwände der weißen Riesen bis ans Wasser, im Süden wellte sich zunächst ein Vorgebirge, dahinter stiegen gewaltige, kahle Hänge hinauf zu den Schneefeldern. Nach Osten öffnete sich das Plateau. Etliche Flüsse schillerten zwischen den Wäldern, irgendwo zwischen den fernen Bergkränzen mussten sie sich einen Abfluss gegraben haben.
Als sie sich sattgesehen hatten, liefen sie zurück und richteten sich um den Kamin ein. Michael hob zu einer förmlichen Begrüßung an: „Willkommen im Märchenschloss! Welch treffenden Namen Jenny für dieses Schmuckstück in der Wildnis gefunden hat! Das wahre Wunder ist jedoch, dass wir eine solch lange Reise unternommen und alle Hindernisse überwunden haben, um gemeinsam unseren Sommer der Freiheit in Alaska zu verbringen.“ Er wanderte mit seinem Blick bedächtig durch die Runde.
Jan hatte eine Gänsehaut und empfand Widerwillen, dass er sich so leicht beeindrucken ließ. Würde Michael eines Tages seinem Vater in die Politik folgen? Reden zu schwingen und Menschen zu beeinflussen, das hatte Michael bereits verinnerlicht, und auch sein weltmännisches Genießertum, das ihn oft so erwachsen wirken ließ, hatte er vom Vater übernommen.
„Zwölf Jahre lang haben wir uns der Schule unterworfen. Jetzt ist endlich der Moment angebrochen, unsere eigenen Wünsche auszuleben. Wir lassen all das Begrenzte, Spießige unserer Eltern und Lehrer hinter uns. All die kleinbürgerlichen Grenzen. In der Weite Alaskas ist dafür kein Platz.“
Jenny presste ihre Fingernägel in den Daumenrücken. Ihre Nägel verfärbten sich weißlich, doch sie schien es nicht zu merken. Wie schaffte es Michael nur, alle so in seinen Bann zu ziehen?
„Niemand besucht dieses Tal, es gehört uns ganz allein. Wir sind auf uns gestellt, alle Herausforderungen müssen wir selbst bewältigen. So wird aus unserer Gruppe eine Gemeinschaft werden, und das ist das schönste all der Abenteuer, die uns bevorstehen.“
Anna stand auf und ging in die Küche. Michael schaute ihr verärgert hinterher und wartete. Wasser lief, dann kam sie mit einem Glas zurück und setzte sich, als wäre diese Unterbrechung die natürlichste der Welt gewesen.
Michael fixierte sie. „So frei wir sind, müssen wir dennoch einige Regeln respektieren. Die Einsamkeit macht das Tal sicher – wir brauchen keine Angst zu haben, bestohlen oder belästigt zu werden. Sie birgt aber auch Gefahr. Wenn sich einer von uns während einer Wanderung ein Bein bricht, müssen wir zurück zum Haus, um die Rettung zu verständigen. Die Rettung muss ein Flugzeug oder einen Hubschrauber schicken. Das kann dauern, wenn sie anderswo im Einsatz sind. Rechnet Flug- und Bergungszeiten dazu, und ihr seht, dass etliche Stunden vergehen können, bevor ein Verletzter im Krankenhaus eintrifft. Vorausgesetzt, die Nacht kommt nicht dazwischen.“
„Geübte Piloten können auch nachts fliegen“, warf Greg ein.
„Das werden sie nicht, solange kein Leben auf dem Spiel steht. Also seid vorsichtig. Das Funkgerät ist fest installiert. Es steht bei uns im Zimmer auf einem Bord. Darunter findet ihr den
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