Wildnis: Thriller - Band 2 der Trilogie
der sie manchmal tröstete und meist quälte. Ihr Zustand verschlechterte sich. Schließlich beängstigten mich ihre Anfälle so sehr, dass ich sie zu einem Psychiater brachte. Der verschrieb ihr Medikamente und ich passte auf, dass sie diese täglich einnahm. Eine Woche später erwachte ich davon, dass sich das Bett bewegte. Sie lag verkratzt darunter und strampelte. Der Psychiater stellte die Medikation um. In der folgenden Nacht habe ich kein Auge zugetan. Sie schlief wie ein Engel. Und noch eine Nacht darauf ist sie ins Hundegatter geklettert, zu den Doggen.“ Er hob den Stock, als wolle er damit zuschlagen. Die Hand zitterte wild.
Albert ließ den Stock sinken. „Drei Tage und drei Nächte habe ich getrauert, dann habe ich ihr Grab hinter mir gelassen. Es war so sinnlos. Alles hatte ich aufgegeben, um Lucia zu retten, die CIA, meine Frau, meine Eltern, die damals noch lebten, die Freunde. Und dann hat sie sich umgebracht.“
„ Was ist mit meiner Mutter geschehen?“, fragte Jan.
„ Wir haben sie bei einer Nachbarin untergebracht, wenige Wochen vor Lucias Tod. Ich hatte Angst, dass Lucia ihr im Wahn etwas antun könnte. Danach wollte ich das Kind nie wieder sehen. Ich wollte alles vergessen. Meine ersten 37 Lebensjahre und meine anderthalb Jahre mit Lucia. Die Erinnerungsstücke, die du im Haus findest, stammen aus meinem dritten Leben. Ich habe in Mexiko einen Sicherheitsdienst –“ Er unterbrach sich mit einer unwirschen Handbewegung. „Das war nicht der Einstieg, den ich beabsichtigt hatte. Ich übernehme wieder das Fragen. Wie hat Oliver mich gefunden?“
Das brachte auch Jan in die Gegenwart zurück. Er hatte sich mitreißen lassen, von der Geschichte und mehr noch von dem dramatischen Schauspiel dieses beherrschten Mannes, in dem ein alter Schmerz hervorgebrochen war. Die wohlgesetzten Worte, die Albert nach dem Schreckensmoment gefunden hatte, konnten seinen Aufruhr nicht verbergen. Jans einzige Chance zu überleben war, in Albert Sympathie für seinen Enkel zu wecken und ihn an seine Liebe zu Lucia zu erinnern. Dafür musste er das Gespräch in die Vergangenheit lenken. Während er dies dachte, sagte er: „Oliver hat dich ohne Unterlass gejagt. Erst in Afghanistan, ab der Wende in Russland. Allerdings hat er vor ein paar Jahren herausbekommen, dass du mit Lucia in Argentinien warst, und in Mexiko hat er von einem Drogenboss erfahren, dass du dich jetzt in Alaska aufhältst.“
„ Wie hat er seine Beziehung zu mir geschildert?“
Jan wunderte sich, dass Albert ihn nicht weiter zu den aktuellen Geschehnissen ausforschte. Albert musste die Erinnerungen an Lucia und Oliver über Jahre oder Jahrzehnte in sich verschlossen gehalten haben, nun schaffte er es nicht, sich von ihnen zu lösen.
„ Ihr habt über viele Jahre eng zusammengearbeitet und du bist ihm ein väterlicher Freund geworden“, begann Jan. „Ihr –“
„ Ich frage mich, ob er selbst daran glaubt. Ich kenne seine Kindheit und Jugend halbwegs genau. Schließlich habe ich ihn gleich nach der Grundausbildung zugewiesen bekommen und eng betreut. Ein Ausnahmetalent, in mehreren Bereichen exzellent begabt, nicht nur ein brillanter Analytiker, auch einfühlsam und vor allem ein begnadeter Schauspieler.“ Albert lächelte. „Ich gerate immer noch ins Schwärmen. Er hätte ebenso den Vorsitzenden der homosexuellen Schauspielervereinigung Hollywoods geben können wie den Präsidenten der konservativen Liga zum Schutz der Familienwerte oder einen Immigranten in einer Wohnwagensiedlung. Er konnte sein, wer immer er wollte – aber er musste es wollen. Wenn er keine bewusste Anstrengung unternahm, zog er sich zurück und verlor sich in seinen Fantasien. Ich habe mich oft gefragt, was in seinem Kopf vorging. Er hingegen meinte, dass wir uns bis ins Letzte verstünden und eine Gemeinschaft bildeten, die über den Rest der Menschheit herausrage, gewissermaßen die einzigen wahren Menschen.“
Als habe Albert jahrelang in einem Verlies seine Geschichte komponiert und nun endlich Papier erhalten, so flossen die Sätze dahin. Schon fuhr er fort: „Manchmal lebte er Fantasien aus, als wären die Anderen keine Menschen. Die Wirklichkeit bot ihm wenig Widerstand, nur mit Frauen tat er sich schwer. Sie wurden seine Opfer. Mit sechzehn entführte er eine attraktive Nachbarin und hielt sie etliche Stunden in einer stillgelegten Fabrik gefangen. Eigentlich wäre er dafür in ein Heim für straffällige Jugendliche gekommen, aber irgendwie haben
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