0407 - Am Tisch des Henkers
»Na und? Aber prächtig dabei.« Mary, dreiundzwanzig Jahre jung, zwinkerte ihm zu. »Ich kann mich daran erinnern, dass so manch ältere Dame dir mehr als einen Blick zugeworfen hat. Du bist schließlich ein gefragter Witwer.«
Leroy Thompson grinste ungläubig.
»Doch.« Heftig nickte das blonde Mädchen. Mary trug ein schickes Kleid mit Blumenmuster. Sie hatte es selbst genäht. Sie war tatsächlich zwischen all den eleganten Roben der übrigen und auch älteren Gäste aufgefallen. So war sie nun mal. Nur nicht mit der Masse schwimmen. Wie auch ihr Großvater, den sie als kleines Kind schon hatte um den Finger wickeln können.
Leroy Thompson blickte auf seine Uhr. »So, meine Liebe, es wird Zeit für dich.«
»Wieso?«
»Das ist deine Verlobung, falls du es vergessen haben solltest. Man wartet auf dich.«
»Meinst du Fred?«
»Unter anderem.«
Sie winkte ab. »Der ist mit seinen alten Kumpanen zusammen. Die trinken auf vergangene Zeiten.« Sie lächelte ihren Großvater an.
»Von so etwas müsstest du doch auch eine Ahnung haben, oder nicht?«
»Naja.«
Mary hauchte ihrem Großvater einen Kuss auf die Stirn »Erzähl mir nichts und staple auch nicht tief. Ich weiß es von deiner Tochter. Du warst früher nicht eben einer, der an den Genüssen des Lebens vorbeigegangen ist. Warum auch?«
»Ja, warum auch, meine kleine Mary? Ich wünsche dir jedenfalls, dass alles, was du dir wünschst, einmal in Erfüllung geht. Wie ich hörte, wollt ihr viele Kinder?«
»Ja, mindestens drei.«
»Dann streng dich an.«
»Nach dem Studium. Außerdem hat Fred seine eigenen Pläne. Er will sich ja selbstständig machen. Die Computerbranche ist noch immer ausbaufähig.«
»Bestimmt.«
»Kommst du gleich nach?«, fragte Mary, als sie auf dem Absatz herumwirbelte.
»Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
An der Tür blieb sie noch einmal stehen. »Bitte, komm mit, Grandpa.«
»Warte noch ein paar Minuten, ich mache mich unten im Keller nur noch eben frisch.« Der Mann wartete, bis seine Enkelin die Tür hinter sich geschlossen hatte. Das frische Lächeln auf seinem Gesicht nahm einen etwas traurigen Ausdruck an. Wenn er Mary sah, dachte er daran, wie doch die Zeit verging. Ihm blieben nicht mehr viele Jahre, die er noch genießen konnte. Aber er hatte ja ein Leben hinter sich, von dem die meisten nur träumen konnten.
Das große Haus, in dem gefeiert wurde, gehörte auch ihm. Es war inzwischen einiges wert. Langsam drehte er sich um und schob seine Hände in die Taschen der Smokinghose. Es waren nur ein paar Schritte bis zu den Toilettenräumen. Er stieß die erste Tür auf, betrat den Vorraum, schaute in das kalt wirkende Licht der Leuchtstofflampe und bemerkte die Reflexe, die auf dem Fliesenboden tanzten.
Er sah noch immer gut aus für dreiundsiebzig. Enorm in Form konnte man da sagen. Die Thompsons gehörten zu einem zähen Schlag, und sie hatten ihren eigenen Kopf. Das war bekannt. Was sie nicht wollten, das wollten sie nicht. Da gingen sie mit dem Kopf durch die Wand. Und Mary gehörte auch zu diesem Schlag.
Vor einem Waschbecken blieb er stehen. Hier war nichts von dem Lärm zu hören, der in der großen Halle tobte. Das Klingen der Gläser, die Musik, der Stimmenwirrwarr, dies alles schien sich auf einem fremden Planeten abzuspielen.
Thompson drehte den Hahn auf, ließ Wasser in seine zusammengelegten Hände laufen und schleuderte es in sein Gesicht.
Mehrere Male wiederholte er dies, nur so konnte er sich richtig erfrischen. Dann griff er zum Handtuch, presste den weichen Stoff gegen seine Haut und merkte plötzlich, dass etwas nicht stimmte.
Das Licht war verloschen! Wer hatte das getan?
Leroy Thompson schüttelte den Kopf, wunderte sich und drehte sich zur Tür um.
Dort stand niemand.
Das hätte er trotz der Dunkelheit bemerkt, wenn es anders gewesen wäre, denn unter der Tür her fiel ein Streifen Licht.
Leroy Thompson runzelte die Stirn. Es kam eigentlich nur ein Kurzschluss für diesen Zustand in Frage, und der hatte genau diese Räume der Toiletten und Waschsäle erwischt.
Leroy Thompson schüttelte den Kopf. Das war unangenehm, aber kein Beinbruch. So etwas ließ sich schnell beheben. Er ging zur Tür, wollte Bescheid sagen und schaffte genau drei Schritte, als ihn die flüsternde Stimme stoppte.
»Bleib hier, Thompson!«
Leroy blieb stehen. »Meinen Sie mich?«, fragte er schlagfertig.
»Siehst du einen anderen?«
»Nein.«
Thompson runzelte die Stirn. Von ihr aus fand ein
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