Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
während zwischen den Stämmen noch dunstige Schatten krochen.
Er verstand nun besser, wieso Carmen, eigentlich eine Frohnatur, so besorgt um Anna war. Woher ihre Angst kam, Anna nicht nahe genug zu sein, eine Katastrophe nicht kommen zu sehen. Anna hatte ihr damals nichts vom Missbrauch verraten. Carmen musste zu entfernt und desinteressiert gewesen sein, unwillig, etwas wahrzunehmen, das dieses vorteilhafte Arrangement – widerspenstige Tochter kostengünstig durch Vater betreut, sie selbst frei für Karriere und Liebhaber in Spanien – gefährdet hätte. Doch auch mit ihrer übertriebenen Achtsamkeit, die sie sich daraufhin zugelegt haben dürfte, hatte sie ihrer Tochter nicht rechtzeitig helfen können.
Wie würde Carmen damit umgehen? Sie tat ihm leid, und zugleich war er wütend auf sie, nicht nur wegen ihrer damaligen Versäumnisse, sondern auch, weil sie ihn nicht eingeweiht hatte. Nach allem, was im Winter in Alaska vorgefallen war, hätte sie Jan darauf vorbereiten müssen, dass Anna damit psychisch nicht zurechtkommen könnte. Und wenigstens jetzt, nach Annas Einlieferung, hätte sie die Karten auf den Tisch legen müssen.
Er schluckte seinen Ärger herunter. Sie würden sich sehr gut verstehen müssen, ihnen stand eine lange Zeit bevor, während derer sie sich gemeinsam um Anna kümmern müssten.
Denn früher oder später würde Anna gefasst werden. Oder sie würde sich stellen, wenn sie in einem klaren Moment ansatzweise begriff, in welche Lage sie sich gebracht hatte. Aber da sie sich nicht erinnern konnte, was ihr mit anderen Identitäten widerfahren war, herrschte für sie ein undurchdringliches Chaos, dem sie mit ihrer Verschwörungstheorie Sinn zu geben versuchte. Würde sie zu dem Punkt gelangen, an dem dieser Wahn unter der Last der Wirklichkeit zusammenbrechen würde? Und dann?
Und jetzt? Wo mochte sie stecken, was mochte sie vorhaben? Sie war nicht aus Berlin geflohen, dessen war er sich plötzlich sicher. Das passte nicht zu ihr. Und was brachte es ihr, der Polizei zu entkommen, wenn ihre Zeit von Lücken unterbrochen war, die sie mit imaginären Bedrohungen füllte? Auch wenn sie das so nicht begreifen konnte, musste sie spüren, dass sie längst gefangen war, in einem Albtraum ohne Erwachen – und das würde sie zum Angriff treiben!
Der Kommissar? An den käme sie nicht heran. Und außerdem stand er nur für die äußere Bedrohung, wohingegen Anna eingesehen hatte, dass ihre Probleme auch innerlich waren. Sie hatte davon gesprochen, dass man ihr Drogen verabreicht hatte. Sie wusste, dass sie nicht sie selbst war. Ihre Gedanken mussten um den Psychiater kreisen.
Jan blieb stehen. Durch den feinen Nebel schillerte zum ersten Mal das Wasser. Und nun sah er auch das Restaurant hinter goldenen Kastanien. Er war noch keine Viertelstunde unterwegs. Sollte er zurückkehren? Er könnte bei Farid bleiben und sich von ihm ins Zentrum mitnehmen lassen.
Er drehte um. Verpassen konnte er ihn nicht, Farid musste in seine Richtung zur Arbeit fahren. Aber vermutlich würde Farid erst frühstücken und nicht so rasch aufbrechen.
Jan beschleunigte, verfiel ins Laufen. Wenn Anna ihn beim Verlassen des Grundstücks beobachtet hatte, zählte jede Sekunde. Er rannte nun mit ganzer Kraft, der Laptop in seinem Rucksack schlug ihm bei jedem Schritt auf den Rücken. Bald sah er das dunkel umrandete Grundstück.
Farids Kombi stand noch am Straßenrand.
Jan blieb vor der Gartentür stehen und klingelte. Er zählte zehn hastige Atemzüge und klingelte erneut, mehrere Sekunden lang. Niemand öffnete. Zögerlich entfernte sich Jan einige Schritte, immer noch hoffend, gleich Farids Stimme zu hören, dann rannte er um die Ecke zu den abgestorbenen Eiben und krabbelte unter dem Astgeflecht hindurch. Der Nebel hielt sich im Garten zäh, er musste sich vom See her in dieser Sackgasse sammeln.
Jan blickte zur Villa, die wie ein abstrus geformtes Schiff im Dunst trieb. Sollte er die Polizei alarmieren? Höchstwahrscheinlich war Anna nicht hier. Farid konnte unter der Dusche sein und das Klingeln nicht gehört haben. Oder er hatte sich ebenfalls zu einem Morgenspaziergang entschlossen, ehe er den ganzen Tag in der Psychiatrie verbringen würde. Oder er hatte sich nochmals hingelegt und schlief tief und fest. Es gab etliche harmlose Erklärungen, und es war unvernünftig, nur wegen seiner Aufgeregtheit die Polizei zu rufen. Es war besser, wenn der Kommissar nicht herausfand, dass er Farids Adresse kannte. Wer konnte
Weitere Kostenlose Bücher