Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
hielt sich unwillkürlich am Geländer fest. Von hier oben reichte der Blick bis zum Meer.
Er betrat das Oberdeck und fühlte sich ausgesetzt, wie auf dem Dach eines schwimmenden Hochhauses. In der Mitte stand eine Radarkugel, der Golfball eines Riesen. Jan war noch nie auf einer Hochseefähre gewesen, die unmenschlichen Dimensionen schüchterten ihn ein.
Er überflog die dreißig bis vierzig Passagiere, die bis hierher gestiegen waren.
Nichts.
Doch!
Sie stand abgewandt in der hinteren linken Ecke, in einem blauen Kleid, die Kapuze ihrer schwarzen Regenjacke über den Kopf gezogen.
Die Treppen führten nicht genau zu den Ecken, sondern waren etwa fünf Meter nach innen versetzt. Wenn er bis zur Treppe hinter ihr gelangte, ohne von ihr bemerkt zu werden, könnte er ihr den Weg abschneiden.
Zügig, doch kontrolliert schritt er auf sie zu. Sie blickte bewegungslos zum Hafen zurück.
Die Fähre schlingerte leicht in der Dünung.
Eine Familie kam die Treppe hinauf, die Eltern sprachen lautstark in einer fremden Sprache. Anna rührte sich nicht.
Er erreichte die Treppe, verlangsamte seinen Schritt und blieb auf Armeslänge von Anna entfernt stehen. Sollte er sie ansprechen oder sie festhalten? Er konnte sich nicht restlos sicher sein, auch wenn er ihre aufrechte Haltung erkannte.
„ Hallo Anna“, sagte er.
Sie drehte sich um. Eine Frau um die Dreißig, die Tränen hatten ihre Wimperntusche verwischt. „Was wollen Sie?“
„ Entschuldigung“, sagte Jan und machte einen Schritt rückwärts.
Auf einmal spürte er Wut. Auf die Weinende, die einem Geliebten nachtrauern mochte, den sie bald wieder in ihre Arme schließen könnte. Auf das fröhliche Mädchen, das ein Deck tiefer Brocken aus ihrem Sandwich riss und in die Luft warf, auf die zeternden Möwen, die über ihr kreisten, und selbst auf die Abendsonne, die ihren schimmernden Pfad aufs Meer legte.
Ihm war, als habe Anna ihn nochmals verlassen. Hatte er sich eingebildet, dass sie sich von ihm retten lassen wollte, indem sie diese Fähre nahm, über die sie zuvor gesprochen hatte? Dass etwas in ihr nicht sterben, sondern von ihm gehalten werden wollte? Seine zwanghafte Hoffnung hatte ihn blind gemacht für die Realität: Mit ihren Verletzungen im Gesicht hätte sie der Polizei nicht entgehen können, die den Hafen überwachte. Ihr hätte das Geld gefehlt, um ein Ticket zu kaufen, und die Zeit, um sich trotz all dieser Hindernisse doch an Bord zu schleichen. Kaum mehr als eine Stunde hätte ihr zur Verfügung gestanden, um von der Rostocker Heide auf die Fähre zu gelangen. Höchstens anderthalb.
Er fluchte – und dachte daran, was Chris auf dem Rückweg zur psychiatrischen Klinik über eine ihrer schlimmen Jugenderinnerungen gesagt hatte: ‚alles längst gegessen und kompostiert.‘ Auch dieser Tag würde vorübergehen.
Vielleicht hatte Chris versucht, ihn zu erreichen. Sein Handy konnte er wieder anschalten, die Polizei wusste ja ohnehin, wo er sich aufhielt. Tatsächlich wurden mehrere Anrufe in Abwesenheit angezeigt und eine SMS von Chris. Darin stand: ‚Hallo Jan, Rainer ist gestorben. Heute Mittag. Ich denke an euch!‘
Anna hatte Rainer auf dem Gewissen! Aber sie konnte nichts dafür, sie war schuldunfähig und ein psychiatrisches Gutachten würde das bestätigen, nicht einen Tag müsste sie wegen dieses Mordes im Gefängnis zubringen. Aber war das möglich: einen Mord zu begehen, ohne sich schuldig zu fühlen? Was würde die Nachricht in ihr auslösen, falls sie darauf stieß? Würden die Dämme zwischen ihren Identitäten halten, bis sie in Therapie war und überwacht werden konnte?
Und selbst dann würde er um sie zittern müssen. Denn Therapie bedeutete, ihre verschiedenen Identitäten zusammenzuführen und ein einheitliches Bewusstsein und Gedächtnis wiederherzustellen. Sie würde in Gedanken immer wieder Rainer die Finger in die Augen stoßen und den hilflos Schreienden hinunterstürzen. Und wenn sie dieses Bild verdrängte, würde sie das Blut der Krankenschwester spüren, das ihr von der Schere über die Faust rann, oder sie würde wieder nach Streichhölzern suchen, während sich Farid auf der Liege in Krämpfen wandte. Wie würde sie das aushalten?
Er dachte an die Krankenakte und das Versprechen, sich nicht umzubringen, das Anna damals mit den Namen von vier Identitäten unterschrieben hatte. Und er hörte ihre halbherzige Antwort, als er ihr auf dem Felsen am Strand das gleiche Versprechen abgenötigt hatte: ‚Wenn du bei mir
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