Wildwood
erstarrten. Der abendliche Stoßverkehr war längst vorbei, und wie jeden Tag um diese Zeit kamen nur noch vereinzelt Reisende durch. Sobald die letzten Lieferungen das Tor nach Südwald passiert hatten, lag die Lange Straße häufig völlig verlassen da.
Das Klappern kam näher. Die Wachen wechselten einen Blick und richteten sich auf. Beide spähten angestrengt die Straße hinunter. Es war eindeutig ein metallisches Geräusch, wie eine rasselnde Kette oder …
Ein Fahrrad.
Es bog weit hinten um eine Kurve und schlingerte unter dem Gewicht seiner Passagiere. Vorne auf dem Lenker saß ein Junge mit einer wilden Mähne schwarzer Locken auf dem Kopf. Er trug
eine schmutzige, zerrissene Soldatenuniform. Nun konnten die Wachen erkennen, dass das Rad von einem Mädchen mit dunklen Haaren gefahren wurde; ein kleiner roter Anhänger hüpfte hinterher, in dem ein in viele Decken gewickeltes glatzköpfiges Kleinkind saß.
Schlitternd hielt das Fahrrad vor dem Gatter an, und der Junge hüpfte vom Lenker. Er zog eine Schleuder aus der Tasche und schwang sie beiläufig auf Hüfthöhe. Das Mädchen stieg ab, sah rasch nach dem Baby in dem Anhänger und wandte sich dann an die beiden Wachen.
»Lassen Sie uns durch«, sagte sie.
Der Wachmann auf der linken Seite des Gatters lachte bei diesem seltsamen Anblick. »So, so. Und was habt ihr hier zu suchen?«
»Wir sind gekommen, um Uhu Rex und die Bürger des Vogelfürstentums aus dem Gefängnis von Südwald zu befreien«, erklärte das Mädchen sachlich. »Ach ja, und um Lars Svik und seine Spießgesellen aus dem Amt zu jagen.« Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu: »Friedlich, wenn irgendwie möglich.«
Sprachlos starrten die Wachen sie an.
Der Junge mit der Schleuder sagte: »Und? Machen Sie jetzt auf?«
Der rechte Wachmann versuchte, seine Verwirrung abzuschütteln. »Ich … also … wir … ihr seid doch wohl … ich meine, NEIN! Wovon redet ihr überhaupt?«
»Das hier ist ein Staatsstreich«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie
also so freundlich wären, das Tor zu öffnen, wären wir Ihnen sehr verbunden.«
Der Wachposten stotterte immer noch herum. »Aber … komm schon, Kleine. Hast du überhaupt eine Armee?«
Das Mädchen lächelte. »Sekunde«, sagte sie.
Urplötzlich füllte sich die Straße in ihrem Rücken mit einem Heer von Vögeln, Menschen und Tieren, das sich wie eine Mauer auf das große Tor zuwälzte.
Später, zu gegebener Zeit, wird dieses Ereignis vielleicht einmal in die Geschichtsbücher eingehen – als »Fahrradputsch«, als vollkommen friedlicher Umsturz, da die bestehende Armee von Südwald ohnehin schon mit SARG, der stetig wachsenden, gewissenlosen Geheimpolizei der Regierung, zerstritten war. Als die vereinten Truppen der Vogelinfanterie und der sogenannten Wildwald-Freischärler durch die Straßen von Südwald marschierten, wurden sie mit offenen Armen empfangen; Bürger und Soldaten reihten sich neben ihnen ein und zogen zusammen mit ihnen zur Villa Pittock. Als sie schließlich vor den Türen der Villa standen, waren die Hauptbeteiligten an der Regierung Svik entweder in die umliegenden Wälder geflohen – vermutlich um in irgendeinem feuchten Tal in Wildwald Zuflucht zu suchen – oder knieten um Gnade flehend auf dem Marmorfußboden der Eingangshalle.
Dort stellten die Revolutionäre auch ihre erste Forderung: den Schlüssel zum Gefängnis von Südwald. Die entmachteten Beamten händigten ihn ohne Widerstand aus. Daraufhin bestiegen die Umstürzler die Dampflokomotive zum Gefängnis, was für sie nach einem fast zwölfstündigen, beschwerlichen Marsch durch das halbe Land eine willkommene Erholung war. Als sie vor den Gefängnismauern ankamen, wurden die Tore weit aufgestoßen, und ein bunter Reigen von Gefieder ergoss sich aus dem Inneren und schraubte sich in den Himmel. Die eingesperrten Vögel des Fürstentums waren frei.
Den Überlieferungen zufolge verließ ein sehr großer Uhu als letzter Inhaftierter das Gefängnis – der Kronprinz des Vogelfürstentums, der von den führenden Revolutionären glücklich in die Arme geschlossen wurde. Zusammen kehrten sie in die Villa Pittock zurück und machten sich an die Arbeit, um für den Wald endlich ein neues Zeitalter anbrechen zu lassen.
»Stillhalten«, sagte Prue. Ihr Buntstift schwebte über dem kleinen Skizzenblock.
Enver schielte mit einem Auge von der Seite zu ihr hinüber. »Wie
lange noch?«, stieß er durch den halb geöffneten Schnabel hervor. Er trippelte mit
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