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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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verdammten Vögel.«
    Mit verstärkter Konzentration widmete sie sich dann wieder ihrer Aufgabe. Mac wand sich in ihrem Griff, als sie ihn grob auf den flachen Sockel legte; sein Weinen verschmolz mit den Rufen der Vögel in der Ferne. Mit einer Hand drückte die Witwe ihn auf den Stein und begann ihr Ritual. Ihre Lippen bewegten sich, als sie die kehligen Klänge einer uralten Zauberformel anstimmte. Dann ritzte sie dem Kind mit dem Dolch in die Handfläche, sodass ein einzelner Blutstropfen hervorquoll. Mac schrie.
    Prue stieß einen verzweifelten Klagelaut aus und versuchte, aufzustehen. Doch sie musste feststellen, dass sie sich nicht rühren konnte; der Efeu hatte sich um ihre Beine und Handgelenke gewunden. Sie war an den Boden gefesselt.
    Fieberhaft dachte sie nach, während sie an den sich kräuselnden Ranken zerrte. Über ihr schwankten die Zweige der Bäume in der kalten Brise und beobachteten teilnahmslos das Grauen, das sich gleich unter ihnen abspielen würde. Wenn sie Alexandra doch aufhalten würden , dachte Prue. Wenn ihr nur eure Äste ausstrecken würdet …
    Mit der linken Hand ergriff die Gouverneurin Macs Strampelanzug und hielt ihn hoch in die Luft. Der Dolch in ihrer Rechten blitzte in einem flüchtigen Sonnenstrahl auf. Der Blutstropfen rann von Macs Finger hinab und blieb kurz an der Kuppe hängen, bevor er auf den Sockel fiel.
    »Aufhören. Sofort«, ertönte eine Stimme.
    Es war Brendan, der auf der obersten Stufe stand. Sein Bogen war straff gespannt, der eingelegte Pfeil an die Wange gedrückt. Er kniff ein Auge zusammen und zielte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Jacke war dunkelrot getränkt.
    Alexandra drehte sich zu ihm um und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Zu spät, oh König der Räuber.« Sie reckte den Dolch zum Stoß.
    Wenn ihr doch nur etwas tun würdet , flehte Prue.
    Bitte. Mein Bruder.
    Plötzlich huschte eine dunkle Silhouette über die Lichtung und warf einen wandernden Schatten über das bebende Grün des Bodens. Prue wandte den Kopf und sah, dass es zwei lange, dürre Tannenzweige waren, die sich in einem weiten Bogen den ausgestreckten Händen der Gouverneurin näherten. Da diese von Brendan abgelenkt war, bemerkte sie die Äste gar nicht, die sich jetzt zu Mac herabsenkten. Mit einer raschen Bewegung entrissen sie das Baby Alexandras Griff und trugen es hoch in die Luft. Die Witwe kreischte und drehte sich, als sie nach den Füßen des Kindes schnappte.

    Brendan schoss den Pfeil ab.
    Er bohrte sich zwischen Alexandras Schulterblätter.
    Gierig leckte der Efeu an ihren Knöcheln.
    Ein einzelner Tropfen Blut drang aus der Wunde, die der Pfeil gerissen hatte, und spritzte auf die Blätter zu ihren Füßen. Der Dolch fiel aus Alexandras Fingern. Und dann folgte sie ihrem Blutströpfchen in die wartenden Zungen des Efeus, und der gesamte Teppich aus dunkelgrünen Ranken wogte empor und verzehrte ihren Körper innerhalb weniger Sekunden.
    Mac lag hoch oben in den Nadelarmen der Tannenzweige und schluchzte. Der Efeu bebte um Prue herum und hielt sie immer noch im Klammergriff. Sie schrie vor Angst, er würde sie ebenfalls vertilgen.
    Da ertönte Iphigenias Stimme.
    »Räuberkönig! Du hast den Efeu genährt! Er hat die Gouverneurin selbst verschlungen!«, rief sie ihm zu. »Die Pflanze untersteht deinem Gebot. Du musst ihr befehlen, zu schlafen!«
    Ein Flackern huschte über Brendans müdes Gesicht. Prue sah ihm an, dass ihm diese Erkenntnis kurz durch den Kopf schoss: Er hatte nun Kontrolle über die mächtigste Kraft des Waldes. Doch im selben Moment, als dieser Gedanke aufblitzte, verzog er die blutigen Lippen zu einem breiten Grinsen und sprach einen einzigen Befehl aus:
    »Schlaf.«

    Sofort stellte der Efeu sein Beben ein und kam auf dem Waldboden zur Ruhe; seine vielen Blätter zuckten wie jemand, der kurz vor dem Einschlafen steht. Im Nu war die gesamte Pflanze vollkommen regungslos. Die Ranken lösten ihren starken Griff um Prues Handgelenke und Beine, und sie befreite sich rasch aus ihren Fesseln. Da sank der Räuberkönig in sich zusammen, als gehorchte er seinem eigenen Befehl, und sein Bogen rutschte klappernd über die Steine der obersten Stufe.
    Iphigenia hielt sich eine Hand über den Kopf und gab den hohen Zweigen der Tanne ein Zeichen. Daraufhin fügte der Baum sich der Bitte der Mystikerin und reichte Mac behutsam von Ast zu Ast – wie zahllose Hände, die eine zerbrechliche Christbaumkugel langsam auf die Erde jonglieren. Als

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