Wildwood
Krähen«, rief sie noch im Halbschlaf. Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster – wo sie den größten und buntesten Vogelschwarm erblickte, den sie je gesehen hatte. Eine atemberaubende Vielfalt von Kleibern und Hähern, Mauerseglern und Adlern schoss durch die Luft und malte ein fließendes, wirbelndes Muster in den Himmel. Zwischen dem Kreischen und Zwitschern hörte Prue die Worte »Platz da!« und »Er kommt!«, und sie reckte den Hals, um zu sehen, was los war. Unterhalb des Turms konnte sie erkennen, dass vor dem Eingang der Villa großer Trubel herrschte; das gesamte Personal war in Bewegung und rannte in hektischem Durcheinander durch die Flügeltüre ein und aus. Weiter vorn näherte sich dem Anwesen ein aufsehenerregender Umzug über jenen durch den edlen Rasen gewundenen Weg; dieser Umzug jedoch befand sich zur Gänze im Flug: Unzählige kleine braune Finken umringten eine zentrale Gestalt – den größten und prächtigsten Virginia-Uhu, den Prue je gesehen hatte.
Jetzt wurde die Flügeltür aufgestoßen, und Prue erkannte den Gouverneurregenten und seinen Berater Roger, als sie heraustraten. Der Uhu, beinahe so groß wie der korpulente Gouverneur, erreichte den Eingang, und die flatternden Finken zerstreuten sich auf die Bäume und die Brüstungen und Fensterbretter der Villa. Der Gouverneurregent verbeugte sich tief, und der Uhu landete auf dem Pflaster und nickte. Die großen gelben Augen leuchteten aus seinem braun-weiß-grau gefleckten Gefieder hervor. Roger neigte mit einer Grußgeste knapp den Kopf und bedeutete dem Uhu, hereinzukommen. Gemeinsam schritten sie über die Schwelle und verschwanden in der Villa.
»Wow«, hauchte Prue endlich. »Er ist wunderschön.« »Uhu Rex«, ertönte eine weibliche Stimme hinter ihr. »Ja, das ist er wirklich.«
Prue fuhr zusammen. Ein Hausmädchen war ins Zimmer gekommen, während sie am Fenster stand, und legte jetzt Handtücher und einen Bademantel auf das Fußende des Bettes. Sie sah aus wie ungefähr neunzehn und trug ein sehr altmodisch wirkendes Kleid mit Schürze.
»Huch!«, rief Prue. »Ich hab dich gar nicht reinkommen gehört.«
»Keine Sorge«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin gleich wieder weg.«
Prue wandte sich wieder dem Fenster zu und beobachtete, wie die Aufregung dort unten allmählich abflaute. »Das war vielleicht ein Auftritt«, sagte sie schließlich. »Die Vögel, meine ich.«
»Oh ja«, antwortete das Hausmädchen. »Ich hab noch nie gesehen, dass der Uhu in die Villa kommt. Normalerweise wird ein niederer Vogel oder sonst jemand geschickt. Soweit ich weiß, hat Uhu Rex noch nie einen Fuß nach Südwald gesetzt. Oder müsste es heißen ›noch nie eine Kralle‹?« Sie lachte und zuckte die Achseln. »Also, es geht mich ja nichts an, aber … du bist die aus der Außenwelt, oder? Von der alle reden.«
»Ja. Die bin ich wohl.«
»Ich heiße Penny. Ich wohne unten im Arbeiterbezirk. Zu Hause kann ich von meinem Zimmerfenster aus die Dächer eurer Häuser sehen. Ich hab mich schon immer gefragt, wie es in der Außenwelt wohl so ist.«
»Ganz anders als hier«, sagte Prue. »Dann ist also noch nie jemand in der Außenwelt gewesen? Jemand von hier?«
»Nicht dass ich wüsste«, lautete Pennys Antwort. »Viel zu gefährlich.« Sie ging zum Bett und begann, den Saum der Decke umzuschlagen. »Wie bist du denn hierhergekommen?«
»Einfach gelaufen«, gab Prue zurück. »Aber eigentlich hätte das gar nicht funktionieren dürfen. Das hat irgendwas mit einer Grenze zu tun, oder?«
»Genau. Es gibt etwas, das Peripherie heißt; beschützt uns vor der Außenwelt. Man kann nur durch, wenn man … du weißt schon … von hier ist.« Sie überlegte einen Moment. »Aber du bist nicht von hier.«
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Prue.
Für einen Moment standen die beiden Mädchen still im Zimmer und grübelten über dieses Paradox nach.
»Ich hab gehört, dein Bruder ist weg?«, fragte Penny schließlich.
Prue nickte.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Penny. »Ich hab auch zwei Brüder und manchmal hasse ich sie. Aber ich mag mir gar nicht vorstellen, was ich machen würde, wenn sie eines Tages nicht mehr da wären.« Als hätte sie plötzlich Angst, ihre Grenzen überschritten zu haben, zog Penny sich mit ihrem Putzzeug zur Tür zurück. »Kann ich dir noch irgendwas bringen?«, fragte sie.
»Nein, danke«, sagte Prue lächelnd. »Du weißt wohl nicht zufällig, wann sie zu mir kommen, oder? Ich meine, was irgendwelche
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