Wildwood
Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, drehte er den Kopf herum, senkte den Oberkörper und klappte seine kolossalen gefleckten Flügel aus. Kraftvoll erhob er sich in die Lüfte. Er kreiste noch zweimal über der Auffahrt, beinahe prähistorisch in seiner Silhouette, dann flog er in den Wald und zog den Finkenschwarm hinter sich her wie ein statisches Flimmern vor dem grauen Himmel.
Etwas benommen schüttelte Prue den Kopf. Hatte er sie wirklich angesehen? Unmöglich, befand sie; warum sollte ein Uhuprinz Interesse an einem Menschenmädchen haben? Es musste reiner Zufall gewesen sein. Bestimmt hatte sie sich nur eingebildet, dass er in ihr Fenster geschaut hatte.
Da bemerkte sie etwas auf der Fensterbank, gleich vor der Scheibe. Es war ein kleiner weißer Umschlag. Darauf stand in eleganter, verschnörkelter Handschrift: Fräulein Prue McKeel . Rasch öffnete sie das Fenster und griff nach dem Brief. Sie sah hinaus; die Vögel waren fort. Prue brach das Siegel und zog ein elfenbeinfarbenes Blatt Papier heraus, auf das unter den geprägten Briefkopf der Villa eine kurze Nachricht geschrieben war. Sie lautete:
Liebes Fräulein McKeel,
es ist von größter Wichtigkeit, dass ich Sie heute Abend spreche. Bitte kommen Sie in meine Räumlichkeiten im White Stone House in der Rue Thurmond 86. Achten Sie unbedingt darauf, dass Ihnen niemand folgt. Sie könnten in ernster Gefahr schweben.
Ihr Uhu Rex
Bestürzt las Prue die Zeilen ein zweites Mal. Sie lief im Zimmer auf und ab und drehte das Blatt Papier hin und her. Angst keimte in ihr auf. Sie las den Brief noch ein weiteres Mal, jetzt in einem gedämpften Flüsterton, wobei sie den letzten Satz mehrmals wiederholte und schließlich den Zettel zu einem kleinen Quadrat faltete.
Prue ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Der Mastiff in dem blauen Anzug stand immer noch am Ende des Flurs. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf seine Vorderpfoten gerichtet und bearbeitete seine Krallen mit einer kleinen Feile. Prue sah seinen massigen Kopf in ihre Richtung schwenken, drückte leise die Tür zu und zog sich in ihr Zimmer zurück.
Wie benommen lief sie zum Bett, auf dem ihre Jeans lag, und steckte den Brief in die Vordertasche. Allmählich war es ziemlich dunkel geworden und sie knipste die kleine Nachttischlampe an.
Prue setzte sich auf die Bettkante und spürte, wie ihr Herz in ihrem Brustkorb hämmerte, als wollte es gleich herausspringen.
Früher einmal war Curtis ein glühender Animal-Planet -Fan gewesen. Er konnte gar nicht genug davon bekommen. Schon mit zwei Jahren hatten seine Eltern ihn nach dem Abendessen vor den Fernseher gesetzt, und er hatte völlig gebannt alles in sich aufgesaugt, was der Sender ausstrahlte, egal welche Tierart, welcher Lebensraum, welches Klima. Nach einer Weile hatte sich diese Leidenschaft allmählich gelegt und wurde von jeder Menge anderer Dinge abgelöst: Robin Hood, das alte Ägypten, Flash Gordon … Aber noch immer erinnerte er sich an die Bilder, die ihn einst so fasziniert hatten. Eines davon war die typische Tier-Doku-Szene, in der die Kamera auf eine ruhige, leere Wiese oder Steppe gerichtet war und man als Zuschauer rätselte, warum diese professionellen Tierfilmer Zeit und Geld auf tierlose Grasflächen verschwendeten – bis sich urplötzlich ein Löwe oder eine Schlange oder ein Panther aus dem Gestrüpp bewegten, und man über die eigene Unfähigkeit erschrak, sie nicht entdeckt zu haben.
Genau das schoss Curtis jetzt durch den Kopf, als er mit ansah, wie die gegenüberliegende Seite der Schlucht zum Leben erwachte.
Es begann unmerklich, bis das sanfte Schwanken der Farnwedel und tief hängenden Zweige etwas Bedrohlicheres, Vorsätzlicheres
annahm, und Curtis glaubte, etwas Metallisches hinter einem kleinen Häufchen von Ästen aufblitzen zu sehen. Dann war es, als wüchsen dem Unterholz plötzlich Gliedmaßen; es bewegte sich, löste sich vom Waldboden. Bald darauf zeichneten sich menschliche Körper vor dem Hintergrund ab, und Curtis schnappte nach Luft, als er einige Gestalten aus dem Laub auftauchen sah, mit dunklen Gesichtern, die wild mit brauner und grüner Farbe bemalt waren. Immer mehr und mehr tauchten auf, bis der gesamte Abhang nur so von Menschen wimmelte. Menschen in zerrissener Kleidung, die die unterschiedlichsten Waffen schwangen: Gewehre, Messer, Knüppel und Bogen. Curtis schätzte, dass die Anzahl inzwischen auf weit über zweihundert angewachsen war – mindestens so viele wie auf
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