WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
mein Bruder und meine Schwestern haben sich verirrt, und ich muss sie finden.«
Charles war so lange gerannt, bis er gegen einen Baum geprallt war.
Eine Zeitlang war er besinnungslos über Wurzeln und durchs Unterholz gestolpert, und als er sich jetzt aus den niedrigen, knorrigen Ästen des Baums befreite, hatte er keinen Zweifel mehr. Er war in Elwyns Wald. Der Schock über diese Erkenntnis und das Innehalten halfen ihm, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sollten nicht länger laufen, sie sollten sich besser hinsetzen und überlegen, was als Nächstes zu tun war. Es überraschte ihn, dass Alys nicht daran gedacht hatte. Also wirklich, wo war …
Der zweite Schock war viel schlimmer als der erste.
Sie waren alle zusammen losgerannt, waren zusammen hingefallen und hatten einander aufgeholfen. Aber als ihn das Laufen immer mehr angestrengt hatte und zur Qual geworden war, hatte er sich nur noch auf sich selbst konzentriert. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal einen der anderen gehört hatte.
» Alys?«, rief er einen Moment später.
Das darauffolgende Schweigen sagte ihm alles.
Nach einem weiteren Moment setzte er sich wieder in Bewegung. Er ging zwischen Bäumen hindurch und gelangte zu anderen Bäumen. An ihren Wurzeln wuchsen Phantom-Orchideen und Winden, verzauberter Nachtschatten und Fingerhut und winzige, gekräuselte Pilze, die wie fauliges Holz leuchteten. Nirgendwo auch nur die Spur einer Lichtung.
Nicht in Panik geraten, sagte er sich. Nicht in Panik geraten, pfeife.
Er pfiff fast zwei Minuten lang, bevor etwas zurückpfiff.
Ein Vogel? Vielleicht. Er hörte auf zu pfeifen, falls es die Art Vogel war, die auf Musik reagierte. Die Stille, die darauf folgte, wurde nur von dem Knirschen der trockenen Blätter unter seinen Füßen durchbrochen. Und von den kleinen Schlurfgeräuschen hinter ihm – oder links von ihm? Er ging schneller. Jetzt waren die Geräusche auf der rechten Seite. Und auf der linken. Und …
Er stieß fast mit dem Mädchen zusammen.
Ihr bleiches Gesicht leuchtete aus dem Nebel. Sie hatte ein süßes, wildes Lächeln und das Mondlicht spiegelte sich in ihren Augen.
Ein Rascheln hinter ihm. Charles drehte sich hastig um und sah ein weiteres Mädchen. Dieses trug ein Jagdhorn über der Schulter.
Plötzlich tauchten noch viele andere lächelnde, dunkel gekleidete Mädchen auf. Als Charles in ihre schräg geschnittenen silbrigen Augen blickte, überwältigte ihn die Erkenntnis, die Dirdreth vor sich zu haben.
» Ähm …« Er schluckte und versuchte zu lächeln. » Entschuldigt mich. Entschuldigt mich – bitte –, aber ich muss …«
Die beiden Mädchen, die ihm am nächsten waren, fassten sich an den Händen und versperrten ihm so den Weg. Statt ihm zu antworten, sprachen sie miteinander.
» Was sollen wir mit ihm machen, Blutrot und Safran? Ihn pflücken und ein Kissen aus ihm fertigen, auf dem wir sitzen können?«
Perlendes Gelächter erklang. Charles sah nervös auf seine gelbe Windjacke und sein rotes Hemd hinab. Jetzt hielten sich alle an den Händen und bildeten einen wogenden Kreis um ihn herum. Charles drehte sich auf der Stelle und versuchte, nacheinander jede der Sprecherinnen anzugehen.
» Dann legt ihn in die Erde oder legt ihn ins Wasser.«
» Legt ihn in Kalkstein oder lehrt ihn zu wandern!«
» Kommt, er ist ein Hübscher …«
» Deela sagt, wir sollen ihn behalten!«
» Gebt ihm einen Trank und stört seinen Schlaf nicht!«
Da drehte sich der Kreis in die andere Richtung.
» Was sollen wir mit ihm machen, mit dem armen kleinen Männlein?«
Ein Dutzend Stimmen erhoben sich zur Antwort: » Bringt ihn zu Elwyn! Bringt ihn zu Elwyn!«
Lachend und singend wogten sie um ihn herum und zwangen ihn zu gehen und dann zu rennen, immer in die Richtung, die sie wählten.
» Ich will aber nicht …«
Doch sie beachteten seinen Protest nicht. Wenn er stolperte oder langsamer wurde, stützten ihn die vielen Hände um ihn herum. Die Mädchen liefen wie die Windhunde, so leicht und mühelos. Charles hatte jedes Zeitgefühl verloren, als ein Jagdhorn erklang und ein Echo ertönte und die wilden Mädchen ihren Schritt verlangsamten. Sie teilten sich vor ihm und er stolperte auf eine Lichtung.
Schwere Nachtblüher hingen zu allen Seiten von den Bäumen herab. Dutzende von Elementargeistern hielten halb verborgen unter Nebelschwaden Wache. Und in der Mitte, zwischen Nebel und Mondlicht, saß Elwyn Silverhair.
» Setz
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