Wilhelm II
Österreicher sollten als Faustpfand für das serbische Entgegenkommen eine vorübergehende Besetzung der evakuierten Stadt Belgrad in Erwägung ziehen. Noch wichtiger: Wilhelm wies Jagow an, die Österreicher in Kenntnis zu setzen, dass in seinen Augen »ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden« sei und dass Wilhelm selbst bereit sei, »den Frieden in Österreich zu vermitteln«. »Das werde ich thun auf Meine Manier, und so schonend für das Österreich[ische] Nationalgefühl und für die Waffenehre seiner Armee als möglich.« 90 Darüber hinaus teilte er Moltke schriftlich mit, dass er der Ansicht sei, dass, wenn Serbien bei seinen Garantien für Österreich-Ungarn bleibe, kein Kriegsgrund mehr vorliege. Im Laufe des Tages hielt er, laut Angaben des Kriegsministers Erich von Falkenhayn, »wirre Reden, aus denen nur klar hervorgeht, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will und entschlossen ist, um diesen Preis selbst Österreich sitzen zu lassen«. 91
Manche Historiker haben diesen unvermittelten Anfall von Umsicht als Beweis für ein Nervenversagen gewertet. Wie Luigi Albertini es denkwürdig formulierte: »Wilhelm spuckte große Töne, solange die Gefahr noch weit entfernt war, hielt aber den Mund, als er eine reale Kriegsgefahr näher rücken sah.« 92 Es steckt ein Körnchen Wahrheit darin: Wie gesagt, war Wilhelms
Bereitschaft, sich für die Verteidigung der österreichischen Interessen einzusetzen stets umgekehrt proportional zu seiner Einschätzung des Risikos eines großen Konflikts. Und am 28. Juli schienen die Risiken in der Tat sehr hoch. Die aktuellen Telegramme von Lichnowsky in London meldeten, Sir Edward Grey habe erklärt, dass Serbien »den österreichischen Forderungen in einem Umfange entgegengekommen sei, wie er es niemals für möglich gehalten habe«. Ferner warnte der britische Außenminister, dass ein Flächenbrand bevorstehe, wenn Österreich seine Position nicht mäßige. 93 So hyperempfindlich wie Wilhelm stets auf die britische Haltung reagierte, nahm er diese Warnungen mit Sicherheit ernst. In mancher Hinsicht fiel Wilhelms Note vom 28. Juli jedoch weniger aus dem Rahmen seiner bisherigen Einmischungen, als die Vorstellung eines »Nervenversagens« nahe legen mag: Seine Kommentare während der Krise lassen darauf schließen, dass er im Gegensatz zu jenen Persönlichkeiten in Wien und Berlin, die das Ultimatum als reinen Vorwand für eine Militäraktion ansahen, es als ein authentisches, diplomatisches Instrument betrachtete, das bei der Beilegung der Krise eine entscheidende Rolle spielen konnte. Außerdem beweisen sie, dass er stets an der Vorstellung einer politischen Lösung der Balkanfrage festgehalten hatte.
Das wohl Erstaunlichste an dem Brief an Jagow vom 28. Juli ist allerdings, dass ihm nicht Folge geleistet wurde. Wenn Wilhelm die Machtfülle gehabt hätte, die ihm gelegentlich zugesprochen wird, dann hätte sein Eingreifen durchaus den Fortgang der Krise und womöglich den Lauf der Weltgeschichte ändern können. Aber er war über die aktuellen Entwicklungen in Wien nicht auf dem Laufenden, wo die Führung inzwischen ungeduldig auf den Schlag gegen Serbien wartete. Und noch wichtiger war: Da er fast drei Wochen auf See verbracht hatte, war er auch über die aktuellen Entwicklungen in Berlin nicht auf dem Laufenden. Seine Anweisungen an Jagow hatten keinen Einfluss auf die Berliner Vertretungen in Wien. Bethmann Hollweg informierte die Österreicher nicht rechtzeitig über Wilhelms Ansichten, um
sie davon abzuhalten, Serbien am 28. Juli den Krieg zu erklären. Sein dringendes Telegramm an Tschirschky, das noch am selben Abend abgeschickt wurde, enthielt zwar einige Vorschläge Wilhelms, überging aber das entscheidende Beharren des deutschen Kaisers, dass es nunmehr keinen Kriegsgrund mehr gebe. Stattdessen blieb Bethmann Hollweg bei der früheren, inzwischen von Wilhelm aufgegebenen Linie, dass die Deutschen »sorgfältig zu vermeiden haben, dass der Eindruck entsteht, als wünschten wir Österreich zurückzuhalten«. 94 Warum Bethmann Hollweg das tat, ist immer noch schwer zu sagen. Die Ansicht, dass er bereits begonnen hatte, seine Diplomatie für einen Präventivkrieg einzuspannen, lässt sich anhand der Quellen nicht erhärten. Vermutlich hatte er sich bereits auf eine alternative Strategie festgelegt, die sich darauf konzentrierte, gemeinsam mit Wien Russland zu überreden, auf eine österreichische Aktion nicht überzureagieren. Am Abend des 28. Juli drängte Bethmann
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