Wilhelm II
Weitere Nachrichten von Lichnowsky kündigten an, dass Berlin ein förmlicheres Angebot aus London abwarten solle. 102 Gerade wegen der Bedeutung dieser Aussicht gab Wilhelm, unterstützt von Tirpitz und Jagow, den Befehl, dass bis zum Eintreffen des erwarteten Telegramms aus London keine weiteren Truppenbewegungen erfolgen sollten. Dieser Befehl war der Anlass für einen heftigen Streit zwischen dem Kaiser und dem Generalstabschef.
Während sich Wilhelm und Bethmann Hollweg an das britische Angebot als letztes Mittel, einen Krieg im Westen zu verhindern, klammerten, vertrat Moltke die Auffassung, dass die Generalmobilmachung, nachdem sie einmal in Gang gesetzt sei, nicht mehr aufgehalten werden könne. »Hierüber entspann sich nun eine äußerst lebhafte und dramatische Diskussion«, erinnerte sich ein Augenzeuge, »Moltke, sehr erregt, mit bebenden Lippen, beharrte auf seinem Standpunkt; vergeblich redeten der Kanzler und der Kaiser und gelegentlich alle anderen auf ihn ein [...]« 103 Moltke wandte ein, es sei selbstmörderisch, den Rücken Deutschlands einem Frankreich zu entblößen, das seinerseits mobil mache. Überdies seien die ersten Patrouillen bereits in Luxemburg eingerückt, und die 16. Division aus Trier werde bald nachfolgen. Aber Wilhelm ließ sich davon nicht beeindrucken. Er ließ nach Trier den Befehl durchgeben, die 16. Division vor der Grenze nach Luxemburg zu stoppen. Als Moltke den Kaiser eindringlich bat, die Besetzung Luxemburgs nicht zu verhindern, weil er damit die Inbesitznahme der luxemburgischen Eisenbahn verhindere, gab Wilhelm zurück, er solle eben andere Bahnen nutzen. Die Diskussion erreichte einen toten Punkt. Moltke wäre in ihrem Verlauf beinahe hysterisch geworden. In einer Aussprache unter vier Augen vertraute der Generalstabschef, den Tränen nahe, Falkenhayn an, »völlig gebrochen zu sein, weil diese Entscheidung des Kaisers [die 16. Division aufzuhalten] ihm zeige, dass dieser immer noch auf Frieden hofft.« 104
Gegen 17 Uhr traf eine weitere Botschaft von Grey ein, welche eine englische Neutralität selbst für den Fall eines Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich in Aussicht stellte. Jetzt herrschte Jubelstimmung im Palast, auch wenn einige wie Falkenhayn und Moltke skeptisch blieben. Der Generalstabschef hielt daran fest, dass der Mobilisierungsplan in einem so späten Stadium nicht dahingehend geändert werden könne, dass Frankreich ausgeschlossen werde, aber Wilhelm wollte nicht auf ihn hören. »Ihr Onkel würde mir eine andere Antwort gegeben haben«, erklärte er. Wenn er, der Kaiser, den Befehl gebe, dann
müsse es auch möglich sein. 105 Wilhelm ließ Sekt bringen, während sich Moltke eingeschnappt zurückzog. Zu seiner Frau sagte er, er sei jederzeit bereit, gegen den Feind zu kämpfen, aber nicht gegen einen Kaiser wie diesen. Der Stress dieser Auseinandersetzung sei so groß gewesen, dass der Stabschef einen leichten Schlaganfall erlitten habe, glaubte Moltkes Frau. 106 Nicht lange danach traf telegrafisch eine neue Note von Lichnowsky ein, die ankündigte, dass Grey in Kürze die Bedingungen für eine englische Neutralität bei einem deutschen Krieg gegen Russland und Frankreich nennen würde. Das löste allgemeine Verwirrung aus, und es wurde keine Antwort abgeschickt.
Falkenhayns Skepsis bezüglich des englischen Angebots erwies sich als begründet, als kurz nach 23 Uhr eine weitere Note von Lichnowsky eintraf. In dem Telegramm widerrief Lichnowsky de facto das Angebot einer englischen Neutralität, das Grey ihm gegenüber gemacht hatte. Die Erlösung für Moltke war in Sicht, der zu diesem Zeitpunkt im Hauptquartier des Generalstabs über den Befehl des Kaisers, die 16. Division zu stoppen, »Tränen der Verzweiflung« vergoss. Kurz vor Mitternacht wurde er in den Palast zurückgerufen und erfuhr von der letzten Note. Bei seiner Ankunft zeigte Wilhelm Moltke ein weiteres Telegramm, das soeben eingetroffen war und die korrigierte britische Position umriss. Er sagte: »Nun können Sie machen, was Sie wollen.« 107
Schlussfolgerung: Wilhelm und der Kriegsausbruch
Welche allgemeinen Schlüsse kann man aus Wilhelms Handlungsweise während der Julikrise ziehen? Wir könnten mit der banalen Feststellung beginnen, dass Wilhelm, obwohl er Deutschland nicht in einen kontinentalen Krieg verwickeln wollte, dennoch einige der Entscheidungen traf, die ihn herbeiführten. Aber fairerweise sollte man darauf hinweisen, dass man
von seinen beiden Kollegen,
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