Wilhelm II
Hollweg den Kaiser, ein Telegramm an Nikolaus II. zu schicken, in dem er ihm versicherte, dass die deutsche Regierung alles in ihren Kräften stehende unternehmen werde, um eine befriedigende Einigung zwischen Wien und St. Petersburg herbeizuführen; nur 24 Stunden zuvor hatte Wilhelm einen solchen Schritt noch als verfrüht verworfen. 95 Mit anderen Worten, Bethmann Hollwegs Strategie war bei der Eskalation des Risikos bereits einen Schritt weiter gegangen: Er dachte bereits daran, den Konflikt zu lokalisieren, nicht ihn zu verhindern, und er war entschlossen, seine Linie gegen Eingriffe von oben zu schützen.
Das Eintreffen der Meldung in St. Petersburg, dass die österreichische Regierung Serbien den Krieg erklärt hatte, markierte eine entscheidenden Wendepunkt in der Krise. Der russische Generalstab hatte bereits drei Tage zuvor am Abend des 25. Juli die sogenannte »Kriegsvorbereitungsperiode« eingeleitet – eine Übergangsmaßnahme, die die vorübergehende Konzentration militärischer Ressourcen in Frontbereichen gestattete – und die Nachricht von der Kriegserklärung löste eine Verhärtung der russischen Linie aus. Laut General Dobrorolski, dem Leiter
der Mobilmachungsabteilung des russischen Generalstabs, fand sich Außenminister Sasonow, dessen Politik bislang die Vermeidung eines Konfliktes angestrebt hatte, nunmehr damit ab, dass ein allgemeiner Krieg unvermeidlich sei und dass so schnell wie möglich eine russische Mobilmachung eingeleitet werden musste. Am 29. Juli wurde eine Teilmobilmachung angeordnet, aber schon am folgenden Tag wurde sie zu einer allgemeinen Mobilmachung ausgeweitet, als aus Berlin eine Warnung eintraf, dass weitere militärische Vorbereitungen die Deutschen zwingen würden, ihrerseits zu mobilisieren. 96
In Anbetracht der dramatischen Zuspitzung der Krise mischte sich nun ein Element der Panik und Verwirrung in die deutsche Diplomatie: Aus Sorge über Nachrichten aus London und über Haar sträubende Beschreibungen der militärischen Vorbereitungen in Russland änderte Bethmann Hollweg seinen Kurs. Nachdem er Wilhelms Bemühungen, Wien am 28. Juli zurückzuhalten, unterlaufen hatte, versuchte er dies nun seinerseits mit einer Reihe eindringlich formulierter Telegramme an Botschafter Tschirschky am 29. Juli. Doch seine Bemühungen wurden wiederum durch die Geschwindigkeit der russischen Vorbereitungen zunichte gemacht. Es bestand die Gefahr, dass die Deutschen zu Gegenmaßnahmen gezwungen wären, bevor ein Vermittlungsversuch allmählich Wirkung zeigte. Nach der Meldung der russischen Mobilmachung am 30. Juli war es lediglich eine Frage der Zeit, bevor Berlin nun seinerseits mit militärischen Maßnahmen antwortete. Zwei Tage zuvor war es Falkenhayn, nach einer Auseinandersetzung mit Bethmann Hollweg, gelungen, Soldaten in Trainingslagern wieder in ihre Stützpunkte zurückzurufen. Die ersten Vorbereitungsmaßnahmen, die zu diesem Zeitpunkt angeordnet wurden (Einkauf von Weizen in der Angriffszone im Westen, Verteilen besonderer Wachen für Eisenbahnen und das Zurückrufen der Soldaten in die Garnisonen), konnten noch geheim gehalten und folglich, zumindest in der Theorie, parallel zu den diplomatischen Bemühungen, den Konflikt einzudämmen, fortgeführt werden. Das ließ sich jedoch
von dem »Zustand drohender Kriegsgefahr« nicht mehr sagen, der letzten Phase der Alarmbereitschaft vor der Mobilmachung. Die Frage, ob und wann Deutschland diesen Schritt in Richtung Krieg tun sollte, zählte zu den zentralen Themen der Diskussion innerhalb der Berliner Führung in den letzten Friedenstagen. Da Wilhelm allein die Macht hatte, unter den widersprüchlichen Anschauungen der politischen und militärischen Führer ein Urteil zu sprechen, trat er von neuem als zentraler Teilnehmer im Entscheidungsprozess hervor.
Bei einer Sitzung am 29. Juli, dem Tag der russischen Teilmobilmachung, herrschte unter den hohen Militärs immer noch Uneinigkeit: Der Kriegsminister Falkenhayn plädierte für die Ausrufung des »Zustands drohender Kriegsgefahr«, während Generalstabschef Moltke und der Kanzler lediglich den Schutz wichtiger Verkehrsinfrastruktur verstärken wollten. Offenbar schwankte Wilhelm zwischen den beiden Optionen hin und her. Vermutlich noch unter dem ernüchternden Einfluss von Nikolaus‘Telegramm vom selben Morgen, das »äußerste [russische] Maßnahmen« angedroht hatte, »die zum Kriege führen werden«, stellte er sich zunächst auf die Seite des Kriegsministers. Aber auf
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