Wilhelm II
Drängen Bethmann Hollwegs änderte er seine Meinung, und die drohende Kriegsgefahr wurde vorerst nicht ausgerufen. Falkenhayn bedauerte diese Entscheidung, notierte aber in sein Tagebuch, dass er Verständnis für die Beweggründe habe: »[…] denn wer noch an die Erhaltung des Friedens glaubt, oder sie wenigstens wünscht, kann natürlich dem Ausspruch der drohenden Kriegsgefahr bei uns nicht beitreten«. 97
Am 31. Juli traf nach weiterem Hin und Her bezüglich der militärischen Schritte die Meldung des deutschen Botschafters in Moskau ein, dass die Russen seit Mitternacht die Generalmobilmachung befohlen hatten. Jetzt gab der Kaiser telefonisch den Befehl, den Zustand drohender Kriegsgefahr auszurufen, und der Befehl wurde von Falkenhayn um 13 Uhr am 31. Juli an die Streitkräfte weitergeleitet. Die Verantwortung für die Mobilmachung trugen nun eindeutig die Russen – ein sehr wesentlicher
Punkt für Wilhelm und die Berliner Regierung, die mit Blick auf pazifistische Kundgebungen in einigen deutschen Städten darauf achteten, dass kein Zweifel an dem defensiven Charakter des deutschen Kriegseintritts bestand. Angesichts der Entwicklungen in Russland konnte Wilhelm kaum weiterhin die Erklärung der drohenden Kriegsgefahr blockieren, aber es ist bemerkenswert, dass ihm diese Entscheidung, laut Überlieferung des bayerischen Militärbevollmächtigten Wenninger, von Falkenhayn »abgerungen« werden musste. Am Nachmittag hatte Wilhelm jedoch offenbar wieder seine Gelassenheit zurückgewonnen; auf einer Sitzung, an der Falkenhayn teilnahm, gab er ein beherztes Exposé von der aktuellen Lage, in dem er die ganze Schuld an dem drohenden Konflikt Russland zuschob. »Seine Haltung und Sprache hier würdig eines deutschen Kaisers!«, kommentierte Falkenhayn ungewohnt feurig, »würdig eines preußischen Königs!« 98
Eine Nachricht aus London
Während dieser Entwicklung richtete Wilhelm seine ganze Aufmerksamkeit auf Großbritannien, das er als das Zünglein an der Waage im kontinentalen System betrachtete, von dem die Vermeidung eines allgemeinen Krieges abhing. Die Versicherung König Georgs V. vom 28. Juli, dass sie »alles versuchen würden, um sich daraus herauszuhalten, und neutral bleiben würden«, 99 hatte Wilhelm Mut gemacht. Sein Optimismus wurde durch das Zögern des Außenministers, Sir Edward Grey, die britischen Intentionen zu verkünden, noch gesteigert. Deshalb war er regelrecht geschockt, als er am Morgen des 30. Juli von einem Gespräch zwischen Grey und dem deutschen Botschafter erfuhr, in dem der Erstere gewarnt hatte, dass Großbritannien zwar »abseits stehen« werde, falls der Konflikt auf Österreich, Serbien und Russland begrenzt bleibe, dass es aber an der Seite der Entente intervenieren werde, falls Deutschland und Frankreich
hineingezogen würden. Die Note des Botschafters provozierte Wilhelm zu einer ganzen Reihe wütender Randbemerkungen: Die Engländer wurden nunmehr als »Halunken« und »gemeines Krämergesindel« verunglimpft, die Deutschland zwingen wollten, Österreich »sitzen zu lassen«, und die es wagten, Deutschland mit düsteren Konsequenzen zu drohen, während sie sich zugleich weigerten, die Bündnispartner zurückzurufen. 100 Als am nächsten Tag die Nachricht von der russischen Generalmobilmachung eintraf, kreisten seine Gedanken wieder um Großbritannien. Im Zusammenhang mit der Warnung Greys bewies die russische Mobilmachung in Wilhelms Augen, dass England nunmehr die Absicht habe, den »Vorwand«, den eine Ausweitung des Konflikts liefern würde, dazu zu nutzen, »alle europ[äischen] Staaten zu Englands Gunsten gegen uns« auszuspielen. 101
Diese anhaltende Tendenz, das Gewicht Großbritanniens in der kontinentalen Diplomatie zu überschätzen, erklärt nicht zuletzt, weshalb Wilhelm immer noch so offen für die Vorstellung war, dass ein Londoner Kurswechsel in letzter Minute ausreichen könnte, um einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich zu verhindern. Als Georg V. am Abend des 31. Juli vorschlug, dass Großbritannien und Frankreich neutral bleiben würden, falls Deutschland von einem Angriff auf Frankreich absehen würde, erwiderte Wilhelm am nächsten Tag, dem 1. August, dass er im Moment den Befehl zur Generalmobilmachung, der soeben erst den deutschen Streitkräften erteilt worden sei, zwar nicht widerrufen könne, dass er aber bereit sei, jeden Vorstoß gegen Frankreich im Gegenzug für die Zusage einer englisch-französischen Neutralität zu stoppen.
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