Wilhelm II
dauerhaftes Charakteristikum an Wilhelms Leben, dass man, mit Wolfgang König, von der »technischen Biographie« des Kaisers sprechen kann. 19 Wilhelm interessierte sich sehr für die neue Rundfunktechnologie und hatte persönlich Anteil daran, dass in die Schiffe der deutschen Kriegsmarine Rundfunksender nach dem AEG Slaby-Arco-System eingebaut wurden. Er hegte außerdem eine große Begeisterung für die Flutprävention und den Bau von Dämmen und Deichen sowie für den wissenschaftlichen Ballonflug (insbesondere für meteorologische Zwecke). Er war beeindruckt von dem erhabenen Spektakel der neuen Luftschiffe und pflegte eine Zeitlang enge, öffentliche Kontakte zu Ferdinand Graf von Zeppelin. Wilhelm war ein massiver und unbeirrbarer Fürsprecher der technischen und wissenschaftlichen Ausbildung. Ferner war er ein großzügiger Sponsor von Forschungsinstituten und schaltete sich häufig persönlich in die Entwicklung von Schlüsseltechnologien ein, indem er Firmendirektoren in seinen Briefen drängte, bestimmte Innovationen von angeblich nationalem Interesse voranzutreiben. 20 Die Technik übte nicht zuletzt deshalb eine starke Anziehungskraft auf Wilhelm aus, weil sie ihm ein Aktionsfeld bot, das über dem Parteienzwist der Politik stand.
Schulwesen
Kaum eine frühe politische Initiative Wilhelms sagt so viel über seine sich formierende Auffassung von der eigenen Rolle aus wie seine Interventionen in der Schulpolitik Anfang der neunziger Jahre. Angesichts der großen Leistungen der epochalen Wirtschaftsgesetze, die von der Regierung Caprivi in diesen Jahren verabschiedet wurden – Senkung der Getreidezölle, Abschluss einer Reihe internationaler Handelsverträge und Miquels Finanzreformen -, mag es unangemessen erscheinen, sich ausgerechnet auf weiterführende Schulen zu konzentrieren. Das hat jedoch seinen Grund: Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass Wilhelm die moderat antiprotektionistische Haltung Caprivis massiv unterstützte und befürwortete und dass er den agrarischen Rückschlag gegen diese Politik bedauerte, aber er hatte wenig mit der Konzeption dieser ökonomischen Maßnahmen oder den Details ihrer Umsetzung zu tun. Hingegen war er bereits bei der Thronbesteigung entschlossen, das deutsche Schulwesen zu reformieren. Seine Interventionen auf diesem Feld sagen mehr über seine politische Vision und Haltung gegenüber Macht und Amt in den ersten Jahren seiner Herrschaft aus als sein marginaler Beitrag zu den großen wirtschaftlichen Diskussionen der Zeit.
Wilhelms Interesse an der Bildungsreform hatte vermutlich seinen Ursprung in den unerfreulichen Jahren am Gymnasium in Kassel, von denen ihm nicht zuletzt der »verknöcherte, altphilologische Lehrplan« 21 in Erinnerung geblieben war. Allerdings spiegelte sich darin auch der Einfluss der damals angesagten, zeitgenössischen Kritik am Sekundarschulwesen im deutschen Reich und in Europa allgemein wider. Im Frühjahr 1889 erließ Wilhelm nach Rücksprache mit Freunden und Beratern eine Kabinettsorder für das preußische Staatsministerium, in der er verlangte, dass der Geschichtsunterricht stärker auf aktuelle Fragen ausgerichtet werden solle. Der Endpunkt des Lehrplans sollte bis in die jüngste Vergangenheit vorverlegt werden und auch die Befreiungs- und Einigungskriege des 19. Jahrhunderts
umfassen, und der Stoff solle auch die soziale und ökonomische Geschichte umfassen, mit dem Schwerpunkt auf den sozialen Errungenschaften des modernen Staates. Ein Jahr später wurde auf Wilhelms Anregung hin eine große Konferenz aus Lehrern und Bildungsbeauftragten einberufen, um über die »Schulfrage« zu sprechen. Wilhelm eröffnete die erste Sitzung persönlich mit einer Rede (einer der längsten seiner Laufbahn), die sich mit Schulhygiene, körperlicher Ertüchtigung, Reduzierung des Lernstoffs und der Notwendigkeit einer »nationalen Basis« für den Lehrplan befasste. 22 Die Lernziele waren klar: Das Militär musste mit kräftigen, jungen Männern versorgt werden (»Ich suche nach Soldaten«). Der öffentliche Dienst brauchte »eine kräftige Generation«, »die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterlande dienen« werde. Die Jugend musste durch eine ordentliche Grundlage in der Arbeitspolitik sowie die vermittelnde, soziale Mission des Staates gegen den Virus der Sozialdemokratie immun gemacht werden. Am wichtigsten war jedoch – auf diesen Punkt kam Wilhelm immer wieder zurück -, dass die Schulen »nationale junge Deutsche erziehen und
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