Wilhelm II
er war nie wirklich ein »zupackender« Monarch, der sich diszipliniert und systematisch mit den Staatsangelegenheiten auseinandersetzte. Die alltäglichen Routinegeschäfte wurden von den ständigen Reisen gestört: Wilhelm verbrachte weniger als die Hälfte seiner Herrschaft in Berlin und Potsdam. 107 Bereits im Jahr 1889 vermerkte General Waldersee: »die vielen Reisen, die rastlose Tätigkeit, die zahlreichen und verschiedenartigen Interessen haben zur natürlichen Folge einen Mangel an Gründlichkeit«; es gab weder eine feste Ordnung in der Erledigung der Angelegenheiten noch einen Zeitplan, in dem bestimmte Stunden des Tages besonderen Aufgaben vorbehalten waren. 108 Wilhelms Abneigung – oder Unfähigkeit -, sich allgemein über die Entwicklung der Politik zu informieren, hatten zur Folge, dass seine Interventionen häufig nichts mit dem allgemeinen Trend der Politik zu tun hatten. Deshalb erschienen die Initiativen auch bizarr und selbst dann fehl am Platze, wenn ihr Inhalt eher unscheinbar war. Im Sommer 1893 wies Friedrich von Holstein darauf hin, dass die öffentliche Meinung dem Kaiser eine beunruhigende Kombination aus»Reisewut, Arbeitsscheu, Frivolität« vorwarf. Er mahnte, allgemein werde ein starker Kanzler gewünscht, der »die Launen« des Kaisers zu bändigen vermag. 109
Diese Mängel waren zum Teil darauf zurückzuführen, dass es Wilhelm völlig an Beständigkeit und Selbstdisziplin fehlte, zum Teil aber auch auf die Notwendigkeit, die Fassung wiederzugewinnen, indem er sich von Zeit zu Zeit von der Bühne zurückzog – ein Bedürfnis, das durch die Neigung, unter Druck in Panik zu geraten, desto deutlicher zutage trat. In einem vielsagenden Brief an Eulenburg, den er mitten in einer Auseinandersetzung mit dem Ministerium im Februar 1895 schrieb, entschuldigte sich
Wilhelm dafür, dass er auf dem Höhepunkt der Krise in seiner Jagdhütte in Hubertusstock weilte. Er fügte aber hinzu, dass man, wenn die Lage sich zuspitze, »auf Momente heraus [muss], um sich kalt Blut und klares Urteil zu bewahren. Denn absolut gerecht will ich alle Vorfälle beurteilen können.« 110 Das Resultat dieser seltsamen Mischung aus Abwesenheit und periodischen Einmischungen, aus Lethargie und unvermittelten Eruptionen von Tatendrang war ein monarchischer Regierungsstil, der zunehmend dem seines russischen Vetters Nikolaus II. ähnelte. Über den Zaren schrieb der Staatsrat A. A. Polowzow im Juli 1901, dass es »auf keinem Feld der Politik einen prinzipiellen, gut durchdachten und sicher geleiteten Handlungsverlauf gebe. Alles wird in Ausbrüchen erledigt, zufällig, unter dem Einfluss des Augenblicks [...]« 111 Genau dasselbe könnte man über Wilhelm sagen – womöglich ein Beweis dafür, dass sein Scheitern als Herrscher eine generelle Unvereinbarkeit zwischen den unglaublichen Anforderungen des monarchischen Amtes in einem hochentwickelten Staatswesen und den bescheidenen Fähigkeiten derjenigen widerspiegelt, die durch dynastische Vorsehung auf den Thron gelangt waren.
Indem Wilhelm in den Jahren 1896/97 die Hindernisse für eine Ausdehnung seiner Autorität aus dem Weg räumte, ersetzte er lediglich einen Satz von Zwängen gegen einen anderen. Je stärker er versuchte, seine Minister zu umgehen, desto stärker geriet er mit den Parlamenten im Land und im Reich in Konflikt. Und je enger er seine Person mit Gesetzesvorlagen verknüpfte, die in den Parlamenten attackiert wurden, desto stärker litt er unter den Fallstricken und Angriffen der empörten Öffentlichkeit. Von Zeit zu Zeit sprach er, wie gesagt, davon, alle Ketten, die ihn fesselten, durch einen Staatsstreich zu sprengen, und manche Historiker haben darin eine echte Alternative für den belagerten Monarchen gesehen. Aber wir sollten uns vor Augen führen, wie leicht es denjenigen, die Wilhelm am besten kannten, fiel, ihn von einem solchen Kurs abzubringen, indem sie ihn daran erinnerten, wie sehr die deutsche Öffentlichkeit
ihn in diesem Fall schmähen würde. Auch wenn in Teilen des deutschen Bürgertums gewiss eine theoretische Begeisterung für außerhalb der Verfassung stehende Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie vorhanden war, so war doch stets klar, dass sich für ein solches Vorgehen keine breite politische Basis finden würde. 112 Das Gerede von einem Staatsstreich war somit kaum mehr als konstitutioneller Eskapismus; wie Bülow sich erinnerte: »Solche nach Pulver und Blei riechenden Äußerungen des Kaisers waren übrigens nicht
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