Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Nationalliberale Ernst Bassermann sprach vor dem Plenum von einem »Gefühl maßlosen Erstaunens, tiefer Trauer«; der Sozialdemokrat Paul Singer von »sehr berechtigtem Zorn und einer berechtigten Entrüstung und […] tiefen Beschämung im deutschen Volke«; der konservative Fraktionschef Ernst von Heydebrand und der Lasa, der als der »ungekrönte König von Preußen« galt, erkannte, »dass es sich hier um eine Summe von Sorgen, von Bedenken und Unmut handelt, der sich seit Jahren angesammelt hat auch in Kreisen, an deren Treue zu Kaiser und Reich bisher noch niemand gezweifelt hat«. 60
Ein zentrales Thema der Debatte war die Frage, welcher Schaden durch die Äußerungen des Kaisers den Beziehungen Deutschlands zu Großbritannien und anderen Mächten beigefügt worden war, aber schon bald weitete sich die Diskussion auf die Rolle des Kaisers – und letztlich des Reichstags – innerhalb der deutschen Verfassung aus. Bassermann griff beispielsweise die »Betätigung dieser persönlichen Politik« an, welche die Politik der »Stetigkeit, Einheitlichkeit, Festigkeit«, die der Kanzler verfolgte, untergraben hätte. Georg Freiherr von Hertling vom Zentrum konstatierte, dass die Bereitschaft sämtlicher Parteien, den Kaiser direkt zu zensieren, »einen Markstein in der parlamentarischen Geschichte Deutschlands« bedeute. Oswald Zimmermann von der antisemitischen Reformpartei schimpfte über die Speichelleckerei der Hofkultur um Wilhelm und fragte: »Wie kommt es, dass gerade immer englische Privatpersonen zu Vertrauten solcher Kaiserlichen Auslassungen gemacht werden?« Wolfgang Heine von der SPD ersuchte den Reichstag, »die Sache einmal von der psychologischen Seite anzugehen«, und warnte, dass es dem Kaiser auch künftig unmöglich sein werde, seine eigene Tendenz zur Übertreibung zu zügeln. Es ertönte allgemeines Gelächter, als Heine zur Bekräftigung dieser Behauptung auf eine Rede verwies, die Wilhelm unlängst am Bodensee gehalten hatte. Der Kaiser hatte Graf Zeppelin als »den größten Deutschen des 20. Jahrhunderts« gewürdigt, und das nur acht Jahre nach Anbruch des Jahrhunderts. »Bei aller Bewunderung für den bescheidenen Grafen: ist das nicht etwas stark aufgetragen?« 61 Kurzum, die Debatte kam einer umfassenden, öffentlichen und so gut wie einmütigen Verurteilung des Auftretens Wilhelms als Souverän durch die Parteien gleich. »Nie zuvor«, bemerkte ein Augenzeuge, »hat jemand es gewagt, solche Worte offen im Parlament zu gebrauchen.« 62
Das wohl Erstaunlichste an der Debatte war jedoch die halbherzige Verteidigung des Kanzlers. Bülows erste Maßnahme war die Veröffentlichung einer Erklärung, dass er den Wortlaut des Interviews nicht im Voraus gesehen habe und dass er persönlich von einer Veröffentlichung abgeraten hätte, wenn er ihn gesehen hätte. Seine Rede am 10. November 1908 im Reichstag war ein Meisterwerk der Zweideutigkeit, in dem Bülow vorgeblich die Seite des Monarchen vertrat, während er gleichzeitig um die Sympathie und Solidarität des Hauses warb. Es sei nicht wahr, teilte Bülow den Abgeordneten mit, dass der Kaiser den Briten einen »Feldzugsplan« für den Burenkrieg geliefert habe (allerdings ließ er offen, ob Wilhelm selbst oder nur der Schreiber dies behauptet hatte), er habe ihnen lediglich »einige rein akademische (Lachen bei den Sozialdemokraten) Gedanken – ich glaube sie waren ausdrücklich als Aphorismen bezeichnet – über die Kriegsführung im allgemeinen« zukommen lassen. Es treffe zu, implizierte Bülow, dass Wilhelms Kommunikation mit seinen britischen Verwandten gelegentlich Indiskretionen enthalten habe, aber kämen derartige Indiskretionen nicht häufig in der diplomatischen Geschichte aller Länder vor? Was Wilhelms Bemerkungen zu seiner eigenen Haltung gegenüber England betraf, erklärte Bülow, dass er es nur allzu gut verstehen könne, wenn sich der Kaiser, der »so eifrig und ehrlich an einem guten Verhältnis mit England gearbeitet« hatte, nunmehr über die destruktive Haltung der chauvinistischen Presse ärgere. Abschließend versicherte Bülow dem Reichstag, dass er »diese feste Überzeugung […] gewonnen« habe, dass der Aufruhr der vergangenen Tage »Seine Majestät den Kaiser dahin führen [werde], fernerhin auch in Privatgesprächen seine Zurückhaltung zu beobachten, die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der Krone unentbehrlich ist. [Bravo! seitens der Rechten.]« Wo das nicht der Fall sei,
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