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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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hergefallen waren – was eine Woge haarsträubender Horrorgeschichten in der europäischen Presse ausgelöst hatte -, und die Notwendigkeit einer exemplarischen Strafaktion. Seine Anspielungen auf »Pardon« und »Gefangene« deuteten aber auch auf eine allgemeinere Beschäftigung mit dem Problem hin, wie Begegnungen zwischen einer modernen »zivilisierten« Armee und dem fanatisierten Mob gesteuert werden konnten, als den viele Zeitgenossen die Aufstandsbewegungen in der heutigen, sogenannten »Dritten Welt« ansahen. Die Diskussionen um die Formulierung und Ratifizierung der Haager Konvention im Jahr 1899 signalisierten und förderten ein geschärftes Bewusstsein für die Trennlinie zwischen »zivilisiertem« und »wildem« militärischem Verhalten. Wusste Wilhelm, der die imperialistischen Abenteuer Englands stets wohlwollend verfolgt hatte, womöglich auch von den Gräueltaten, die unter Kitcheners Kommando 1898 bei Omdurman im Sudan begangen worden waren? Damals hatten die Briten verwundete Mahdisten in Gefangenschaft scharenweise getötet, mit der Begründung, dass sie selbst als verwundete Gefangene noch eine tödliche Gefahr für die britischen Truppen darstellten. Alle diese Themen wurden für die Zeitgenossen durch die »Gerüchtepanik« gebündelt, die Mitte Juli in der europäischen Presse tobte, als führende Schreiber Mutmaßungen über das Ausmaß und die Abscheulichkeit der Gräueltaten in Peking anstellten. Selbstredend nutzten sie dabei die Vorurteile der westlichen Leser über die angebliche Barbarei der Chinesen weidlich aus. 50
    Bernhard von Bülow bezeichnete die Ansprache von Bremerhaven in seinen Memoiren, die er in den ersten Jahren der Weimarer Republik schrieb, als »die schlimmste Rede jener Zeit und vielleicht die schädlichste, die Wilhelm II. je gehalten hat«. Diese Sichtweise war durch die Tatsache beeinflusst, dass die britische Kriegspropaganda das »Hunnen-Thema« der Rede inzwischen aufgegriffen und erfolgreich auf den deutschen Feind umgemünzt hatte. 51 Die zeitgenössischen Reaktionen auf die Rede waren jedoch, wie Bernd Sösemann aufzeigt, eher gemischt. Kanzler Hohenlohe rühmte sie in einem Tagebucheintrag als eine »zündende Rede«, welche den Soldaten, ausnahmslos Freiwillige, Mut gemacht habe, während sie sich auf ihre lange und gefährliche Reise begaben. Der französische Außenminister Théophile Delcassé teilte dem deutschen Botschafter in Paris mit, dass die Rede »in ganz Frankreich den besten Eindruck hervorgerufen« habe. Die Rezeption in der deutschen Presse war unterschiedlich: Organe des Zentrum, der Sozialdemokraten und Nationalliberalen verurteilten tendenziell die Unmenschlichkeit der Ermahnung, keine Gnade walten zu lassen; die konservative und Teile der nationalliberalen Presse verteidigten hingegen die Worte des Kaisers als legitime Vorbereitung auf die Mühsal, die deutsche Soldaten in einem Land erwartete, in dem die modernen Konventionen für die Kriegführung nicht eingehalten wurden. 52
    Im Reichstag wurde unterdessen heftig darüber diskutiert, ob die China-Expedition berechtigt war oder nicht – vor allem als Berichte von Gräueltaten, die europäische Soldaten in China auf dem Dorf begangen hatten, in der deutschen Presse kursierten. Hier geriet Wilhelms Rede (mittlerweile allgemein als »Hunnenrede« bekannt) selbst zum Gegenstand der politischen Debatte. Das war ein wichtiger Einschnitt, weil es einen Bruch mit der parlamentarischen Konvention bedeutete, nach der die Person des Monarchen aus der politischen Diskussion ausgeschlossen bleiben sollte. Der ehrwürdige Reichstagspräsident Franz Xaver Graf von Ballestrem hatte höchstpersönlich die geänderte Haltung autorisiert. In einer Ansprache anlässlich des 41. Geburtstags des Kaisers am 27. Januar 1900 erklärte Ballestrem vor dem Plenum, dass es gerade die Intention des Kaisers sei, dass seine Reden »beachtet, erwogen, besprochen [werden] von allen denen, die es angeht, vor allem von den Vertretern des deutschen Volkes«. 53 Die Abgeordneten zögerten nicht, von dieser neuen Ausdehnung der Beziehung des Parlaments zum Souverän Gebrauch zu machen. In einer Rede vom 19. November verlas der Sozialdemokrat August Bebel Passagen aus der entschärften offiziellen Version der Bremerhavener Rede und stellte zur allgemeinen Erheiterung des Reichstags fest, dass der Verweis auf die »Hunnen« »aus irgendeinem Grunde weggeblieben« sei. Er kritisierte die Rede scharf wegen ihrer

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