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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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imperialistischen und aggressiv christlichen Stimmungen. (Wilhelm hatte unter anderem angedeutet, dass die Strafexpedition womöglich die Tür zu einer Missionierung Chinas öffnen könnte.) 54 Am folgenden Tag widmete sich der linksliberale Fraktionschef Eugen Richter in einer Rede der verfassungsmäßigen Bedeutung der Äußerungen des Kaisers. Richter wies darauf hin, dass der »gegenwärtige Monarch« ausgiebiger Gebrauch mache von »öffentlichen Kundgebungen programmatischer Art« als seine Vorgänger. Er kritisierte auch den Kanzler, weil er es versäumt habe, die öffentlichen Äußerungen zu kontrollieren. Richter forderte für die Zukunft, »dass der Monarch, bevor er solche programmatischen Reden hält, sich über den Inhalt und die Form mit den verantwortlichen Ministern verständigt«. 55
    In seiner Antwort wies der frisch zum Kanzler ernannte Bülow darauf hin, dass es gemäß der Verfassung lediglich seine Aufgabe sei, die Verantwortung für die »Anordnungen und Verfügungen« des Monarchen zu übernehmen, nicht für seine öffentlichen Äußerungen. Dennoch willigte er ein, künftig die »volle moralische Verantwortung« für die Reden des Kaisers zu übernehmen. Ferner bestand er darauf, dass es durchaus angemessen gewesen sei, wenn der Kaiser zu den Truppen vor der Abreise »als Soldat und nicht als Diplomat« gesprochen habe. 56 Zwei Tage nach Bülows Rede schickte Eulenburg ein unmissverständliches Telegramm an Wilhelm und bat ihn »sehr eindringlich, sich in nächster Zeit jedweder öffentlichen Kundgebung – sei es ziviliter oder militärisch – zu enthalten, soweit sie auch nur im entferntesten geeignet wäre, irgendwie anzuregen oder aufzuregen.« 57

Die Daily Telegraph- Affäre
     
    Ungeachtet der eifrigen Bemühungen Richters und Bebels ebbte die parlamentarische Empörung über Wilhelms Taktlosigkeiten rasch ab. Das war nicht zuletzt eine Folge der geschickten – wenn auch ein wenig ambivalenten – Verteidigung des Monarchen durch Bülow; ein weiterer Grund könnte aber auch der Umstand sein, dass es den Kritikern nie gelang, den Reichstag zu überzeugen, dass die persönlichen Einmischungen des Souveräns jemals wirklich dem internationalen Ansehen des Deutschen Reiches geschadet hätten. 58 Es konnte allerdings auch passieren, dass Wilhelms unbedachte Aktionen diplomatische Konsequenzen hatten, die sich der Kontrolle deutscher Politiker entzogen und Anlass zu größter Sorge gaben. Dazu kam es im Jahr 1908, als die öffentliche Empörung über Wilhelms Äußerungen in einem Interview mit einer britischen Zeitung den Kaiser und die Regierung Bülow in die schwerste Krise der Vorkriegsära stürzten. Bei der sogenannten »Daily Telegraph- Affäre« ging es um ein Interview, das Wilhelm einem persönlichen Freund, dem Colonel Edward James Montagu Stuart-Wortley, im November 1907 im Schloss Highcliffe Castle gegeben hatte, während der Kaiser sich privat als Gast in dem Schloss aufhielt. Im Verlauf des Gesprächs mit seinem englischen Gastgeber behauptete Wilhelm, er habe Großbritannien während des Burenkriegs persönlich maßgebliche, strategische Ratschläge gegeben und habe Versuche anderer Kontinentalmächte verhindert, die Burenkrise auszunutzen, indem sie sich gegen Großbritannien verbündeten. Die Engländer bezeichnete er als »toll, toll wie Märzhasen«, weil sie die friedlichen Absichten des Deutschen Reiches und seine ehrliche Sehnsucht nach einem Frieden mit England anzweifelten. Es treffe zu, räumte er ein, dass die vorherrschende Stimmung in der deutschen Bevölkerung gegenüber England »nicht freundlich« sei, aber er, der Kaiser, sei ein wahrer Freund, der unermüdlich danach trachte, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu verbessern. Stuart-Wortley verfasste aus seinen Notizen zu den damaligen Bemerkungen und anderen vom Jahr darauf einen Artikel, den er im Oktober 1908 dann im Daily Telegraph veröffentlichte; offenbar hatte er angenommen, die Veröffentlichung des Interviews werde der englischen Öffentlichkeit zu einem Zeitpunkt, als die englisch-deutschen Beziehungen durch die Balkankrise belastet waren, verdeutlichen, wie wohlwollend der Kaiser ihnen doch eigentlich gesonnen war.
    Als der Text dieses Interviews in der deutschen Presse veröffentlicht wurde, machte sich in sämtlichen Kreisen der Bevölkerung zunächst Verwirrung und später Verzweiflung und Empörung breit. 59 Die Reichstagsabgeordneten schäumten vor Wut und Enttäuschung. Der

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