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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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könnten weder er noch seine Nachfolger die Verantwortung dafür übernehmen. 63
    Bülow hatte mit dieser Rede sicher nicht das Beste für Wilhelm gegeben – es war, wie der niederländische Gesandte in Berlin es nannte: »un plaidoyer trop leger« (ein zu schwaches Plädoyer). 64 Wie Katharine Lerman nachgewiesen hat, hatte Bülow eine früher im November verfasste Rede wieder fallen gelassen, die das Verhalten des Kaisers energischer verteidigt hätte. 65 Sein Hauptziel war es wie immer, die eigene politische Stellung gegenüber dem Reichstag, dem preußischen Ministerium und dem Kaiser zu stärken. Folglich verwundert es nicht, dass manche Beobachter in dem nächsten öffentlichen Auftritt des Kanzlers vor dem Reichstag am 19. November einen Hauch von Triumph zu entdecken vermeinten. Der Reichskanzler verlieh offenbar in seinem ganzen äußeren Auftreten, der Sprache und der Haltung der veränderten Lage Ausdruck. Fürst Bülow nehme nicht etwa die tragische Pose eines Märtyrers ein, der sich die Sünden anderer aufgeladen habe, sondern zeige nunmehr das Selbstvertrauen und die Sicherheit eines Staatsmannes, der die Situation unter Kontrolle habe, schreibt ein Augenzeuge. 66
    Die ganze Episode hatte, zumindest aus Wilhelms Sicht, einen grausam ironischen Aspekt. Denn ausgerechnet in diesem Fall hatte er sich darum bemüht, die Feinheiten der Verfassung zu beachten. In einem Gespräch vom 13. November 1908 mit Valentini, dem Chef des Zivilkabinetts, erklärte Wilhelm, dass er gleich nach seiner Rückkehr nach Berlin darauf geachtet habe, Bülow mündlich über den allgemeinen Inhalt der Gespräche in Highcliffe Castle zu informieren. Er erinnerte sich, dass der Kanzler ihm »gerührt gedankt [hatte], dass ich seine Politik so mühsam unterstützt habe«. Als Wilhelm ein Manuskript des Interviews erhalten hatte, hatte er es sofort an Bülow mit der Bitte geschickt, der Kanzler solle es persönlich durchlesen, um zu prüfen, ob irgendetwas gegen eine Veröffentlichung sprechen würde. »Ich maß der Sache solche Wichtigkeit bei«, sagte Wilhelm zu Valentini, »dass ich mich nicht auf das Urteil irgend einer untergeordneten Stelle im Auswärtigen Amt verlassen wollte.« Nach mehreren Wochen kam das Manuskript »mit einigen Korrekturen und dem Aufschreiben des Kanzlers zurück, dass der Veröffentlichung s[einer] A[nsicht] n[ach] Bedenken nicht entgegenstünden«. Mit anderen Worten, Wilhelm hatte alles in seiner Kraft stehende getan »um sich konstitutionell zu decken«. 67
    Ob Bülow das Manuskript tatsächlich im Voraus gelesen hatte, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Es wäre natürlich seltsam, wenn er es versäumt hätte, den Inhalt eines solchen Dokuments zu prüfen, obwohl der Kaiser ihn ausdrücklich darum gebeten hatte – umso mehr, als dem Manuskript ein vier- bis fünfseitiger Brief von Bülows Cousin Martin von Rücker-Jenisch beigefügt war, der Wilhelm damals begleitet hatte und ernste Bedenken angesichts einer Veröffentlichung des Interviews anmeldete. 68 Als Valentini Nachforschungen anstellte, was mit dem Dokument zwischen seiner Ankunft aus England und der Freigabe für die Veröffentlichung geschehen war, fand er heraus, dass Bülow das Manuskript, nachdem er es während des Urlaubs auf der Insel Norderney erhalten hatte, sofort an das Auswärtige Amt mit der Bitte um Rat weitergeleitet hatte. Als das Manuskript dann Anfang Oktober mit geringfügigen Korrekturen wieder an ihn zurückging, schickte Bülow es mit einem Brief an Jenisch zurück, in dem er erklärte, dass er von dem Manuskript »mit lebhaftem Interesse Kenntnis genommen habe« und dass er Jenisch seinen Dank »für diesen neuen Beweis Allerhöchsten Vertrauens« in seine (Bülows) Politik aussprechen wolle. 69 Natürlich ist es möglich, dass Bülow so großes Vertrauen zu seinen Untergebenen hatte, dass er sich ohne weiteres auf ihr Urteilsvermögen verließ; Katharine Lerman hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass dies zu Bülows generell lässiger Wahrnehmung seiner Pflichten passen würde. 70
    Doch es bleibt ein letzter Zweifel: Am 6. Oktober diktierte Bülow Felix von Müller, einem deutschen Diplomaten in seinem Gefolge auf Norderney, Änderungen, die Klehmet vorgeschlagen hatte, ein relativ niederer Beamte des Auswärtigen Amtes, dem man die Prüfung des Dokuments anvertraut hatte. 71 Spätestens an diesem Punkt, wenn nicht schon vorher, musste Bülow genug über den Inhalt erfahren haben, um seinen Verdacht

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