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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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könnten diese Leidenschaften, die damals en vogue waren, auch als eine Art Kompensation gedient haben: Immerhin boten Wissenschaft und Technologie allem Anschein nach ein Tätigkeitsfeld, das von den Hindernissen relativ verschont blieb, mit denen er bei seinen Eingriffen in die Exekutive fortwährend zu kämpfen hatte; darüber hinaus waren sie ein Mittel, die Treue jener Teile des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums wiederzugewinnen, die seinen Bemühungen, in der Politik den Ton anzugeben, äußerst skeptisch gegenüber standen. Die Authentizität des Engagements Wilhelms steht jedoch außer Frage, ebenso wie die positive Wirkung in der Öffentlichkeit. Wilhelms enge Bekanntschaft mit dem sehr beliebten Grafen Zeppelin, dem Erfinder und Konstrukteur des Luftschiffs, fand ihren Niederschlag in dem Seriendruck von Postkarten, auf denen umkränzte Porträts der beiden Männer auf beiden Seiten der wohl faszinierendsten technischen Neuerung der Zeit zu sehen waren. Eine Berliner Tageszeitung erkannte die Bedeutung der Beziehung zwischen dem Kaiser und dem Grafen und kommentierte treffend: »Was dem Volke teuer ist, das muss auch dem gekrönten Repräsentanten des Volkes teuer sein, und es ist immer gut, wenn ein Monarch sich durch die Tat zu diesem Grundsatz bekennt.« 91
    Wilhelms Anrufungen der göttlichen Vorsehung mögen zur Zielscheibe des Spotts der anspruchsvolleren Zeitungen geworden sein, doch trafen sie einen Nerv bei zahllosen einfachen Deutschen, und viele Protestanten der Mittelschicht unterstützten begeistert seine Bemühungen, die Kaiserkrone wiederum zu sakralisieren. 92 Wilhelm konnte mit vielen aktuellen Entwicklungen in der Kultur des fin-de-siècle mit Sicherheit überhaupt nichts anfangen. Er verabscheute die Werke der Berliner Secession – über das düstere Gemälde Der Grunewaldsee des Secessionisten Walter Leistikow beschwerte er sich mit den berühmten Worten: »Er hat mir den ganzen Grunewald versaut.« 93 Aber wenn Wilhelms freimütige (und häufig ignorante) Schmähungen der Avantgarde der kulturellen Intelligenz als lächerlich und rückwärtsgewandt erschienen, so kamen sie doch der großen Mehrzahl der Kulturkonsumenten ganz vernünftig vor. Denn auch in ihren Augen musste Kunst eine Form des Eskapismus und der Erbauung bieten. 94 Zudem blieb der Kaiser ein nationales Symbol – nicht zuletzt mangels Alternative, weil das Reich über so wenige echte nationale Symbole verfügte. 95 In Bayern lockten Zeremonien des »Kaiserkultes« (Paraden, Denkmalenthüllungen und Feierlichkeiten von 1913) Zuschauermassen nicht nur aus der Mittelschicht, sondern auch Bauern und Ladenbesitzer an. 96 Selbst innerhalb der sozialdemokratischen Milieus der Industrieregionen bestand offenbar eine Kluft zwischen der kritischen Sichtweise der SPD-Führung und der Masse der SPD-Anhänger, unter denen der Kaiser »als Verkörperung des patriarchalisch-fürsorglichen Prinzips« wahrgenommen wurde. 97 Die von Polizeispitzeln in den Kneipen der Hamburger Arbeiterviertel aufgezeichneten Gespräche enthielten einige abfällige, aber auch viele positive und sogar leidenschaftliche Kommentare zu »unserm Willem«, der wegen seines Einsatzes für den Ausbau der Schiffindustrie gefeiert wurde. 98 Eine – wenn auch bislang kaum ausgelotete – Dimension dieser positiven Resonanz war das öffentliche Bild der Kaiserin, deren authentisches Auftreten und wohltätige Aktivitäten ihr viele Sympathien eintrugen. Gemeinhin wurde sie als »das geliebteste Mitglied der Königsfamilie« angesehen. 99
    Der »Unterhaltungswert« der Monarchie, der um 1900 durch die Kinematographie noch enorm gesteigert wurde, ist auch nicht zu unterschätzen. 100 Der kaiserliche Hof erkannte rasch das propagandistische Potenzial der neuen Technologie. Von 1890 an gaben Hofbeamte und sogar der Kaiser selbst Filme in Auftrag, die den Monarchen zeigten. Oberhofmarschall August Ludwig Graf zu Eulenburg (nicht zu verwechseln mit seinen Verwandten Philip und Botho) schickte beispielsweise Oskar Messter, einen Pionier der Kinematographie, in den Nahen Osten, um die Palästinareise des Kaisers zu filmen – das daraus hervorgegangene Material wurde im ganzen Reich gezeigt und war ein enormer Erfolg. Von 1905 an beauftragte der Kaiser seinen eigenen Fotografen Theodor Jürgensen, nicht nur Stapelläufe und andere Marineereignisse, an denen der Kaiser offiziell teilnahm, zu filmen, sondern auch – eine Neuheit in der Geschichte der monarchischen

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