Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
sicherte. 84 Für Wilhelm persönlich boten sie eine gewisse Entschädigung für die politische Beschränkung und Entmachtung, der er so häufig begegnete. Genau genommen waren sie, wie Walther Rathenau, der Autor der wohl tiefsinnigsten Reflexionen über diesen Monarchen, bereits 1919 beobachtete, das wirkungsvollste Instrument seiner kaiserlichen Souveränität. 85
Welchen Erfolg Wilhelm mit seinen Bemühungen hatte, ist eine andere Frage. Einerseits provozierten die eklatantesten Eskapaden, wie gezeigt, eine Woge feindseliger Kommentare in der Presse, vor allem wenn sie Deutschlands Beziehungen zu anderen Mächten betrafen. Als sichtbarstes (oder hörbarstes) Zeichen der Unabhängigkeit des Souveräns wurden diese Eskapaden zum Brennpunkt der Kritik am »persönlichen Regiment«. 86 Langfristig erodierten sie allmählich den politischen Status der Äußerungen vom Thron. Es kam, vor allem nach 1908, immer häufiger vor, dass die Regierung sich von unerwünschten Reden mit der Begründung völlig distanzierte, dies seien keine bindenden, programmatischen Aussagen, sondern lediglich persönliche Meinungsäußerungen des Monarchen – ein Dementi, das den Schluss nahe legte, dass die politischen Ansichten des Kaisers keine größeren, politischen Konsequenzen hätten. 87 Die Skandale, die den Kaiserthron in den ersten beiden Jahrzehnten der Herrschaft erschütterten, waren nicht einfach willkürliche Störungen, wie plötzliche Gewitterstürme, die gelegentlich im Hochsommer vorkommen. Ihnen wohnte eine kumulative Logik inne: Es gelang Bismarck, seinen Abschied aus dem Amt im Jahr 1890 als das Werk dubioser Hintermänner auszugeben – eine Metapher, die der damalige Urheber im Eulenburg-Skandal von 1908/09 dann seinerseits verwenden konnte. Das Unbehagen wegen der passiven Haltung der Deutschen gegenüber Südafrika in den neunziger Jahren schwelte weiter und kam in der Daily Telegraph- Krise von neuem zum Ausbruch. Mit jedem Skandal traten neue Themen zu Tage, die den politischen Diskurs nachhaltig prägten. Der Militärhistoriker und einstige Hauslehrer des Prinzen Hans Delbrück fasste diese schicksalhafte Dynamik in eine düstere Metapher: Jede neue Empörung sei wie ein Kranz, in den alle bisherigen Irrtümer und Fehltritte des Kaisers eingewoben würden, die im Gedächtnis der Öffentlichkeit gespeichert sind. 88 Wie der Wiener Korrespondent der Frankfurter Zeitung im Jahr 1910 treffend beobachtete, enthüllte ein Vergleich zwischen Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, wie kontraproduktiv der allzu häufige Gebrauch öffentlicher Stellungnahmen letztlich war: Der Habsburger sei, so hieß es in dem Artikel, ein »schweigender Kaiser«, der stets zwischen seiner Privatperson und dem öffentlichen Amt klar unterscheide. Niemals habe er das öffentliche Forum für irgendwelche persönlichen Äußerungen benutzt. »Was aber ist das Ergebnis dieser taktvollen Zurückhaltung? Eine Verminderung des kaiserlichen Ansehens etwa? Man mache doch einmal den Versuch, in Österreich vom Kaiser zu reden wie man es in Deutschland an jeder Tafelrunde hört, und man kann etwas erleben, auch von gar nicht in Loyalität getauchten Männern.« 89
Andererseits ist es bekanntlich schwierig, den Gradmesser der »öffentlichen Meinung« zu treffen, und man sollte sich vor jedem Urteil hüten, dass sich ausschließlich auf Zeitungskommentare stützt – »veröffentlichte Meinung« und »öffentliche Meinung« sind nicht ein und dasselbe. Der Kaiser mag »die Aura eines Souverän, der über jeder Kritik steht«, verloren haben, schrieb ein ausländischer Beobachter in Berlin auf dem Höhepunkt der Daily Telegraph- Affäre. »Doch bei der persönlichen Ausstrahlung, die er besitzt, wird er in den Augen der Masse seiner Untertanen immer eine enorme Vorrangstellung behalten.« 90 Diese erstaunliche Unverwundbarkeit lässt sich nicht zuletzt durch den Umstand erklären, dass die Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem Publikum nicht ausschließlich politisch, im engeren Sinne, war. Andere Elemente seiner Tätigkeit im Amt erregten ebenfalls das Interesse und die Sympathie wichtiger Teile der Öffentlichkeit. In einem viel stärkeren Ausmaß als seine beiden Vorgänger war Kaiser Wilhelm II., wie bereits erwähnt, ein Mann der modernen Wissenschaft, der sich mit renommierten Pionieren des industriellen und technischen Fortschritts umgab und sich öffentlich zu bahnbrechenden Forschungsprojekten bekannte. Freilich
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