Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
anzubieten, schwankte je nachdem, wie berechtigt die österreichischen Forderungen und wie groß die damit verbundenen Risiken in seinen Augen waren.
Im Oktober 1908 brach die erste große »Balkankrise« aus, als Österreich-Ungarn überraschend ankündigte, dass es Bosnien und die Herzegowina annektieren werde. Dieser Schritt hätte eigentlich gar keine kontinentale Krise auslösen müssen; immerhin waren die Territorien zu der Zeit bereits seit drei Jahrzehnten von Österreich verwaltet worden. Die förmliche Eingliederung in den gesetzlichen Rahmen des Habsburger Reiches war mit Russland als Teil komplexer Geheimverhandlungen zwischen dem österreichischen Außenminister Alois von Aehrenthal und seinem russischen Gegenüber Alexander Iswolski bereits vereinbart worden. Zur Krise kam es vor allem deshalb, weil Aehrenthal die Meldung von den Annektierungsplänen publik machte, bevor die Russen Zeit gehabt hatten, die eigene Presse auf eine Maßnahme vorzubereiten, die im eigenen Land mit Sicherheit heiß diskutiert werden würde. Angesichts der Woge der Empörung über die Preisgabe »slawischer Brüder« an die Habsburger dementierte der in die Ecke gedrängte Iswolski, dass er sich zuvor mit Aehrenthal bereits geeinigt hatte. 3 Das Ergebnis war eine österreichisch-russische Krise, die die Beziehungen zwischen den beiden Bündnisblöcken belastete. Die Entwicklung gipfelte in der »Petersburger Note« vom März 1909, in der die deutsche Regierung Russland warnte, Österreich weiterhin zu drohen. Die Franzosen wollten sich nicht festlegen, und deshalb gaben die Russen am Ende nach und Iswolski trat zurück. Das Ultimatum von 1909 vertiefte nach allgemeiner Meinung die Isolation der Mittelmächte und förderte dadurch die Abhängigkeit des Deutschen Reichs vom österreichischen Partner.
Vor allen Dingen befürchtete Wilhelm, als er von der Entwicklung erfuhr, dass die Annektierung womöglich als Startschuss zu einer allgemeinen Aufteilung des Osmanischen Reichs auf dem Balkan wahrgenommen werden könnte. Er bezeichnete die österreichische Demarche abschätzig als »einen Fähnrichsstreich«, der den »europäischen Rekord« für diplomatische Destabilisierung gebrochen habe. 4 Die »furchtbare Dummheit Aehrenthals«, kommentierte er am 7. Oktober, habe die deutsche Politik in ein Dilemma gebracht, so dass »[wir] die Türken, unsere Freunde nicht beschützen und ihnen nicht beistehen dürfen«. 5 Tatsächlich war die Vermutung, dass Wilhelm sich gegen eine Annexion aussprechen würde, der Grund für die Entscheidung der Österreicher, ihn nicht im Voraus über ihr geplantes Vorgehen zu informieren. Als Wilhelm Aehrenthal im Mai 1909 zur Rede stellte, weil man ihn nicht im Voraus konsultiert hatte, erwiderte der Außenminister ganz offen: Er »hätte es deshalb nicht getan, weil er von der Annahme ausgegangen wäre, der Kaiser würde in Anbetracht seiner alten, freundschaftlichen Beziehungen zum [türkischen] Sultan ihm, dem Minister, von dem Vorgehen abgeraten haben.« 6
Schließlich unterstützte Wilhelm die Annexion notgedrungen als einen fait accompli, teils weil Bülow ihm so eindringlich die Gründe, die dafür sprachen, auseinander setzte, teils weil der Stand der öffentlichen Meinung in Europa und die Schwäche der Argumentation Russlands wenig Anlass zu der Annahme gaben, dass eine andere Macht die Russen gegen Österreich-Ungarn unterstützen würde. Immerhin hatte das deutsche Auswärtige Amt seit geraumer Zeit gewusst, dass Aehrenthal und Iswolski irgendetwas miteinander aushandelten. Deshalb hatten sie auch keinen Grund, die russischen Proteste ernst zu nehmen. 7 Kaum war die Bosnienkrise in die Schlagzeilen gelangt, da stolperte Wilhelm jedenfalls in die Daily Telegraph- Affäre vom November. Die darauffolgende Neutralisierung des Kaisers als Faktor in der Politik hatte zur Folge, dass im März 1909, als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, die Initiative bei der Gestaltung der deutschen Beziehungen zu Russland fest in den Händen von Bülow und dem Auswärtigen Amt lag. Wie während der Marokkokrise drei Jahre zuvor verfolgten sie das Ziel, das Bündnissystem der Entente aufzubrechen, indem sie ein Mitglied isolierten und unter Druck setzten.
Mit anderen Worten, die Bosnienkrise von 1908 bestätigt keineswegs die Anschauung, dass eine bedingungslose Unterstützung seitens Wilhelms für die österreichische Balkanpolitik eine »existenzielle Gefahr« für das deutsche Reich darstellte. Im
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