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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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Wesentlichen lässt sich dasselbe auch von der nächsten Episode in der Reihe sagen: von der Balkankrise 1912. Der Erste Balkankrieg, wie er später genannt wurde, brach am 8. Oktober 1912 aus, als vier Staaten (Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland), angespornt von den Russen, dem Osmanischen Reich den Krieg erklärten. Nach einer Reihe von Siegen gegen die Türken meldeten die vier Kriegsparteien Ansprüche auf verschiedene Regionen des ehemaligen Osmanischen Reichs an. Am heikelsten war die Forderung Serbiens, zusätzlich zu erheblichen Territorien, die es bereits besetzt hatte, einen Zugang zur Adria durch das ehemals osmanische Albanien zu bekommen. Da die Russen diese Forderung unterstützten, Österreich-Ungarn jedoch energisch dagegen protestierte, entstand ein gefährliches Patt. Falls die Serben, indem sie an ihrer Forderung festhielten, eine österreichische Militärintervention in Albanien provozieren sollten, bestand die Gefahr, dass Russland seinerseits intervenierte. In diesem Fall hätte das deutsche Reich seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen müssen.
    In seiner politischen Biografie des Kaisers vertritt Willibald Gutsche die Ansicht, aus den Reaktionen Wilhelms auf den Ersten Balkankrieg gehe hervor, dass er im Sommer und Herbst 1912 »unter wachsendem Druck monopolistischer und militärischer Kreise [begann], auf einen außenpolitischen Kurs einzuschwenken, der einen Weltkrieg nunmehr ernsthaft ins Kalkül zog«. Zur Untermauerung dieser These verweist Gutsche auf zwei Quellen: Die erste ist ein Auszug aus Wilhelms Randnotizen, in dem er feststellt, dass »die Orientfrage mit Blut und Eisen gelöst werden [muss]. Aber in einer für uns günstigen Periode. Das ist jetzt!« Die zweite ist eine Randnotiz, in der Wilhelm die Ansicht äußert, dass er, falls Russland Franz Joseph zwingen sollte, in den Krieg zu ziehen, bereit sei, »den Casus foederis [Bündnisfall] in vollstem Maße mit allen Consequenzen durchzuführen«. 8
    Es stimmt zwar, dass Wilhelm bei verschiedenen Gelegenheiten die Ansicht äußerte, dass die Balkanfrage nur mit »Blut und Eisen« gelöst werden könne (einer von vielen Fällen, in denen er sich naiv Bismarcks Sprache aneignete), doch es deutet nichts darauf hin, dass er glaubte, dass deutsches Blut oder deutsches Eisen dabei eine Rolle spielen würden. In einem Bericht vom 2. Oktober 1912 an Kanzler Bethmann Hollweg meldete ein Beamter in Wilhelms Gefolge, dass ein Konflikt auf dem Balkan in den Augen des Kaisers unvermeidlich sei. Er vertrete aber zugleich die Meinung, »dass wir uns von jeder Beeinflussung der Balkanstaaten fernhalten und den Dingen ihren Lauf lassen« sollten. 9 Zwei Tage danach begründete Wilhelm seine Ansicht in einer vierseitigen Denkschrift. Er führte aus, dass (Punkt eins) eine Intervention, um »den Frieden [zu] wahren«, kontraproduktiv wäre, weil sie den Hass der Bevölkerung in den Balkanstaaten gegen die Großmächte in der Region erregen und die bestehenden Autoritätsstrukturen destabilisieren würden. Ferner liege es (Punkt zwei) im Interesse Deutschlands, wenn diese Konflikte zu einem Zeitpunkt ausbrächen, zu dem Russland und Frankreich militärisch noch nicht bereit seien, ihn als Vorwand für einen Konflikt mit Deutschland zu nutzen. Darüber hinaus sei es (Punkt drei) nur natürlich und legitim, wenn die Balkanstaaten ihre Kräfte gegen die dem Untergang geweihten, europäischen Territorien der Türkei einsetzten. Und schließlich empfahl er (Punkt vier), dass die Großmächte von einer Intervention in den Konflikt absehen und stattdessen einen »Ring bilden, in dem der Kampf sich abspielt und zu bleiben hat«. Sein abschließender Kommentar lautete: »Man lasse die Leute nur ruhig machen. Entweder sie kriegen Keile oder erteilen sie; danach ist immer noch Zeit zum Sprechen. Die Orientfrage muss mit Blut und Eisen gelöst werden! Aber in einer für uns günstigen Periode! Das ist jetzt!« 10
    Wohl kaum eine Passage veranschaulicht besser, wie wichtig der Kontext für das Verständnis der politischen Äußerungen Wilhelms ist. Auch wenn aus seinen Ansichten zur Recht mäßigkeit des Konflikts auf dem Balkan ein primitiver Sozialdarwinismus durchscheint, den wir verabscheuen mögen, so lässt sich daraus keineswegs ein Plädoyer für eine deutsche Intervention herauslesen, wie Gutsche behauptet. Im Gegenteil: Wilhelm untersagte dem Auswärtigen Amt am 4. November ausdrücklich, sich an irgendwelchen Aktionen zu beteiligen,

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