Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
unheilvolle Konsequenzen hatte, so kann man sie kaum als Ergebnis einer falschen Kriegspolitik bezeichnen. Die Reichsverfassung hatte das Verhältnis zwischen militärischer und politischer Autorität nie befriedigend geklärt. In dem halbparlamentarischen System, das 1871 eingeführt worden war, lernten die deutschen Streitkräfte zudem mit der Zeit, wie man die Öffentlichkeit und ihre gewählten Repräsentanten mit Hilfe der Techniken der modernen, politischen Mobilisierung dazu brachte, kostspielige Rüstungsprogramme und Truppenaufstockungen zu unterstützen. Die Gewohnheit, sich über die Köpfe der »verantwortlichen« Politiker direkt an die Öffentlichkeit zu wenden, war 1914 bereits tief verwurzelt, als Wilhelms Nemesis in der Gestalt eines Kriegshelden mit einer enormen Medienpräsenz auftrat. Wilhelm erkannte nach und nach, welche Gefahr für seine eigene Autorität von Feldmarschall Hindenburg und Ludendorff ausging, aber er unterließ es, sie für ihre Insubordination im Jahr 1915 zu bestrafen, zu einem Zeitpunkt, als er die Herausbildung einer Militärdiktatur womöglich noch hätte verhindern können. Im Oktober 1918, als der Kaiser endlich die Herrschaft der »Siamesischen Zwillinge« beendete, war es bereits viel zu spät.
Exil
Man könnte der Meinung sein, die 23 Jahre, die Wilhelm im holländischen Exil verbrachte, würden eigentlich nicht in eine Studie über die Macht des Kaisers gehören, da er ja seit 1918 keine Regierungsgewalt mehr hatte. Es sind jedoch einige Überlegungen zu seinem Exil angebracht, nicht nur um die Darstellung abzuschließen, sondern auch weil Enthüllungen über die Dinge, mit denen sich Wilhelm nach 1918 befasste, bedeutsame Fragen zur Bewertung seines Platzes in der deutschen Geschichte aufgeworfen haben. Die beiden wichtigsten betreffen seine Haltung zu den Juden und sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten und dem Hitlerregime. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zum Leben des Exkaisers im Exil werden wir uns diesen beiden Themenkomplexen zuwenden.
Die ersten beiden Jahre des Exils waren von der Eventualität überschattet, dass die Alliierten Holland zwingen würden, Wilhelm für einen Prozess als Kriegsverbrecher auszuliefern. Wilhelm war von der alliierten Kriegspropaganda systematisch dämonisiert worden, und der Hass gegen ihn schlug hohe Wellen. Bereits am 2. Dezember 1918 diskutierte eine englisch-französisch-italienische Konferenz in London die Möglichkeit, von Holland die Auslieferung Wilhelms zu einem alliierten Prozess als dem »Verbrecher, der die Hauptverantwortung für den Krieg trug«, zu fordern. Präsident Wilson sprach sich dagegen aus, und die Angelegenheit wurde bis zur Einberufung der Friedenskonferenz zu den Akten gelegt. Nach zähem Ringen unter den vier Mächten in Paris forderte Artikel 227 des Versailler Vertrags, dass Wilhelm »wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage« gestellt und in Gewahrsam genommen werden müsse. Sein Fall sollte von einem besonderen Gericht und fünf Richtern der alliierten Staaten verhandelt werden. Zu diesem Zweck verlangte man von den Niederlanden, ihn auszuliefern.
Dass es nie zu einer Auslieferung kam, war die Folge von vier Faktoren: Erstens fehlte den Forderungen jede vereinbarte, rechtliche Basis. Die Alliierten waren sich dessen selbst bewusst und betteten ihre Forderungen zunehmend in ein diffuses Konzept des »internationalen Sittengesetzes«. Zweitens weigerte sich die niederländische Regierung, obwohl sie von Wilhelms Ankunft überrumpelt worden war und wegen der potenziellen Konsequenzen Bedenken hatte, den alliierten Gesuchen nachzukommen, mit der Begründung, dass dies die niederländische Souveränität verletze. Drittens wehrten sich die niederländische Königin Wilhelmina und der belgische König Albert dagegen, Wilhelm als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Insbesondere im Fall Alberts übte die Meinung des Monarchen einen wichtigen, mäßigenden Einfluss auf die belgische Regierung aus, die sonst womöglich eine Auslieferung gefordert hätte. 75 (Georg V. von England war ebenfalls dagegen, beschloss aber, sich nicht einzumischen.) Das internationale, dynastische Netzwerk, das so wenig Greifbares zu Wilhelms Amtsausübung beigetragen hatte, wirkte sich nunmehr zu seinem Vorteil aus. Als vierter, wohl wichtigster Faktor waren sich die Alliierten in diesem Punkt nicht einig. Vor allen Dingen die
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