Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Briten preschten mit Vorschlägen vor, dass Wilhelm als »Feind der menschlichen Rasse« entweder vor Gericht gestellt oder ähnlich wie Napoleon an einen abgelegenen Ort der Erde verbannt werden müsse. Die Amerikaner waren jedoch dagegen, und die Franzosen konnten sich nicht dafür begeistern. Angesichts dieser Meinungsverschiedenheiten, sowie der Uneinigkeit unter britischen Politikern selbst, war die Auslieferungskampagne zum Scheitern verurteilt, und nach März 1920 geriet das Thema allmählich in Vergessenheit. 76
Unterdessen waren der Exkaiser und sein schwindendes Gefolge aus Amerongen, wo sie Gäste des Grafen Godard Bentinck, eines überaus zuvorkommenden, holländischen Adligen, gewesen waren, in das geräumigere und stattlichere Huis Doorn umgezogen, wo Wilhelm bis zu seinem Tod bleiben sollte. Die Anspannung der Auslieferungsdebatten, sowie die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme in Holland, ein gescheiterter Entführungsversuch und Gerüchte von bevorstehenden Überfällen auf den Wohnsitz durch eingeschlichene Deutsche hatten der Gesundheit der Kaiserin arg zugesetzt. Da sie pragmatischer und zielstrebiger als Wilhelm war, fehlte ihr die Fähigkeit, sich ins Reich der Fantasie zu flüchten. Deshalb litt sie viel stärker unter der Ungewissheit ihrer Lage. Sie starb am 11. April 1921, und ihr Leichnam wurde auf ihren eigenen Wunsch hin nach Deutschland überführt, wo die republikanische Regierung einwilligte, sie im königlichen Mausoleum beim Neuen Palais in Potsdam beizusetzen. Als der Trauerzug durch Norddeutschland fuhr – auf Drängen der deutschen Behörden bei Nacht -, fanden sich in erstaunlich großer Zahl Trauernde ein, um ihr das letzte Geleit zu geben. Dem Vernehmen nach bildete sich eine ununterbrochene Menschenkette quer durch das Land. In Berlin berichteten Augenzeugen von einer Menge aus mindestens 200 000 Trauergästen, von denen viele sogar über Nacht campiert hatten, um sich einen guten Platz zu sichern. Diese Demonstration legte nicht nur Zeugnis von den beträchtlichen Reserven royalistischer Gefühle ab, die in der deutschen Bevölkerung in der Anfangsphase der Weimarer Republik noch vorhanden waren, sondern auch von der besonderen Sympathie, die sich »Dona« im Volk erworben hatte. 77
Wilhelms aufrichtige Erschütterung über den Tod der Kaiserin hielt ihn nicht davon ab, nur 18 Monate später erneut zu heiraten. Und schon bald kehrte im Haushalt in Doorn eine angenehme, wenn auch eintönige Routine ein. Ehrentitel und einige Überreste des Hofrituals wurden beibehalten: Innerhalb der Grenzen des Wohnsitzes blieb Wilhelm »deutscher Kaiser« und »König von Preußen«. Er vertrieb sich die Zeit mit Holz sägen und hacken, mit ausgiebiger Lektüre, insbesondere populärwissenschaftliche und archäologische Werke, und mit dem Schreiben seiner selbstgerechten Memoiren. Er arbeitete mit Publizisten zusammen, die bereit waren, ein positives Bild von seiner Herrschaft zu vermitteln, gewährte Lieblingsautoren Interviews oder redigierte die Manuskripte wohlgesonnener Biographien. Er koordinierte eine »Forschungsvereinigung«, die sich mit großen kulturhistorischen Spekulationen befasste, die aus dem Umkreis des damals angesagten Feldes der »Kulturmorphologie« stammten. Und er pflegte eine Bände füllende Korrespondenz, die heutzutage über die Archive in Europa und den Vereinigten Staaten verstreut ist.
Zu den zentralen Themen seiner Briefe zählte der Wunsch, die Schuld an dem Zusammenbruch und der Demütigung Deutschlands und an seinem eigenen Sturz vom Thron bestimmten Personen und Gruppen zuzuschieben. Wie John Röhl, Lamar Cecil und Willibald Gutsche gezeigt haben, spielten die Juden in Wilhelms erklärenden Szenarien eine wichtige Rolle. Die Weimarer Republik sei, erklärte er in einem Brief von 1925, von den Juden vorbereitet und errichtet worden und werde von jüdischem Geld erhalten; die Revolution, welche die Republik ins Leben gerufen habe, schrieb er zwei Brieffreunden, sei ein Akt des Verrats durch das deutsche Volk gewesen, das von einem Haufen Juden getäuscht und belogen worden sei. 78 Es finden sich auch andere, weit beunruhigendere Äußerungen, die auf eine Nähe zum rassischen Gedankengut des Nationalsozialismus schließen lassen: »Juden und Mücken« seien »eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muß«, schrieb Wilhelm im Jahr 1927 an seinen amerikanischen Freund Poultney Bigelow und fügte hinzu: »Ich glaube am besten
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