Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Diese Meldung löste einen dramatischen Umbau des deutschen, politischen Systems in letzter Minute aus. Die Militärbefehlshaber akzeptierten nunmehr die Notwendigkeit innenpolitischer Reformen, vor allem weil sie meinten, das Deutsche Reich hätte auf diese Weise eine bessere Ausgangsposition für die Friedensverhandlungen mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Nachdem er bereits nach mehreren Strohhalmen gegriffen hatte, akzeptierte Wilhelm die Vorschläge der Militärs. Graf Hertling wurde entlassen, weil er nicht die Verantwortung für die Demokratisierung der deutschen Verfassung übernehmen wollte. Er wurde durch Prinz Max von Baden ersetzt, der unverzüglich eine neue Regierung bildete, die sich in erster Linie aus Reichstagsabgeordneten zusammensetzte (keine vom Kaiser berufenen Kandidaten).
Die Beziehungen zwischen der neuen Regierung und der Obersten Heeresleitung blieben gespannt. Als sich abzeichnete, dass die Friedensbedingungen der Alliierten härter ausfallen würden, als die deutsche Führung erwartet hatte, widerrief Hindenburg seine frühere Entscheidung, die Aushandlung des Friedens an die zivile Regierung zu delegieren, und ließ seinen Generälen ein Rundschreiben mit der Erklärung zukommen, Wilsons Bedingungen seien inakzeptabel. Max von Baden betrachtete dies zu Recht als eine Herausforderung seiner eigenen Autorität und drohte mit seinem Rücktritt, falls Wilhelm die zivile, militärische Doppelherrschaft in Deutschland nicht beende. Am 26. Oktober ging er mit Ludendorff scharf ins Gericht und akzeptierte seinen Rücktritt. »Die Operation ist vollzogen«, bemerkte er später. »Ich habe die siamesischen Zwillinge voneinander getrennt.« 70
Nunmehr stand Wilhelms Zukunft als Landesherr auf der Tagesordnung. Ließ sich sein Verbleiben im Amt mit den Veränderungen vereinbaren, die sich damals in der deutschen Politik abspielten? In den letzten Kriegswochen wurde diese Frage immer breiter diskutiert, insbesondere nach der Lockerung der Zensur Mitte Oktober. Durch den Wortlaut der amerikanischen Note an die deutsche Regierung vom 14. Oktober wurde sie schlagartig akut. Präsident Woodrow Wilson sprach davon, »jede Willkür und Macht, die für sich allein und heimlich den Frieden der Welt stören kann«, zu vernichten, und fügte orakelhaft hinzu: »Und die Macht, die bisher die deutsche Nation beherrscht, ist von der hier beschriebenen Art. Es liegt innerhalb der Wahl der deutschen Nation, das zu ändern.« 71 Viele Deutsche interpretierten diese Mitteilung und ähnliche Kommentare in späteren Noten dahingehend, dass sich die Amerikaner nur mit einer völligen Abschaffung der Monarchie zufrieden geben würden. 72 Immer lauter wurde inzwischen die Abdankung des Kaisers gefordert, und manche fragten sich bereits, ob der Monarch in Berlin überhaupt noch sicher sei. Dabei spricht vieles dafür, dass der Thron womöglich unbeschadet geblieben wäre, wenn Wilhelm nicht am 29. Oktober die Hauptstadt verlassen hätte und nach Spa ins Hauptquartier gefahren wäre. Aus welchem Grund tat er das? Einige Leute im Umkreis Wilhelms meinten, dass die Abreise die einzige Möglichkeit sei, eine Abdankung zu verhindern, ja, dass die Anwesenheit des Kaisers im Hauptquartier die deutsche Kampfmoral an der Front stärken und so eine Wende des deutschen Kriegsglücks herbeiführen könnte. 73 In Wirklichkeit erlitt das Ansehen Wilhelms und seines Amtes durch die Fahrt nach Spa jedoch, ähnlich wie der gefangene König Ludwig XVI. mit seiner verhängnisvollen Flucht nach Varennes, einen herben Rückschlag.
Die dramatischen Umstände um Wilhelms Abdankung und Flucht ins Exil am 9./10. November 1918 sind bereits mehrfach ausführlich geschildert worden und sollen hier nur kurz gestreift werden. 74 In der letzten Woche seiner Herrschaft litt das ganze kaiserliche Gefolge unter Realitätsverlust. Die absurdesten Pläne wurden ernsthaft erwogen, etwa ein Vorschlag, Wilhelm solle die Würde des Throns wiederherstellen, indem er sich selbst in einem selbstmörderischen Angriff auf die feindlichen Linien opferte. Wilhelm sprach davon, an der Spitze »seiner Armee« zurück nach Berlin zu marschieren. Doch das Militär teilte ihm mit, dass die Armee nicht länger seinem Befehl Folge leiste. Daraufhin spielte er in Gedanken die verschiedenen Varianten der Abdankung durch: Konnte er vielleicht als Kaiser abdanken, aber preußischer König bleiben? Da die Revolution in den Städten Deutschlands immer mehr
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