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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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während Wilhelm ihn – unbewegt durch die Krokodilstränen des Kanzlers – ansah. 44 Drei Tage danach reichte Bismarck sein Rücktrittsgesuch ein.
     
    Als Wilhelm II. im Jahr 1888 den Thron bestieg, glich das Amt des Kaisers einem Haus, in dem die meisten Zimmer noch nie bewohnt gewesen waren. Bis zum März 1890 hatte sich so manches geändert, und dieser Trend sollte sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzen. Der Thron war nicht länger wie unter Wilhelm I. nur der Sitz der Autorität, auf die die Regierungsgewalt sich stützte, sondern eine eigenständige politische Kraft. In den komplexen und schwierigen Verhandlungen um die Arbeiterfrage hatte sich der Thron erstmals als einer der Brennpunkte des Entscheidungsprozesses erwiesen. Bei jedem Schritt fand der Kaiser bereitwillige Verbündete, die ihm bei seiner Aufgabe zur Seite standen, und zwar nicht nur aus dem Umfeld eifriger Freunde und Berater, sondern aus einer breiteren Anhängerschaft innerhalb der Regierung, die von Bismarcks Herrschaft die Nase voll hatten und den wagemutigen Initiativen des neuen Monarchen Beifall spendeten. Mit dieser Unterstützung hatte Wilhelm ein Gesetzesprogramm entwickelt und durchgehalten, das in der deutschen Öffentlichkeit breite Unterstützung genoss. Die Arbeitergesetze, die im Zuge dieser Initiativen in den Jahren 1890-1892 in Kraft traten, schafften die Klagen der Arbeiter gewiss nicht völlig aus der Welt. Aber sie brachten einige Fortschritte auf den Gebieten der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Arbeitsbedingungen, des Jugendschutzes und der Schlichtung. Darüber hinaus blieb der Grundsatz, für den sie standen, nämlich dass »die Unternehmergewalt die Grenzen der durch den Staat vertretenen Interessen eben aller Gruppen zu achten hatte«, in den folgenden Jahrzehnten ein dominierendes Thema in der Sozialpolitik in Preußen und im Reich. 45 Das Wichtigste war allerdings: Wilhelm hatte sich gegen einen politischen Koloss durchgesetzt und damit viele Haupthindernisse für die Machtausübung des Kaisers beseitigt. Auch als Mensch hatte Wilhelm viele zeitgenössische Beobachter mit seiner raschen Auffassungsgabe, seiner Selbstsicherheit und Beherrschtheit in der Diskussion beeindruckt. »Der Kaiser hat ausgezeichnet [der Staatsratssitzung betreffs der Arbeiterfrage] präsidiert«, bemerkte Friedrich von Holstein, »so dass alle Welt sich fragt, wo hat er das gelernt?« 46
    So weit so gut. Aber eine Reihe von Fragen blieb offen. Die Auseinandersetzung mit Bismarck hatte dem jungen Monarchen und seinen Helfershelfern, die sich auf die aktuellen Aufgaben konzentrierten, ein hohes Maß an Disziplin und Zielstrebigkeit abverlangt. Es war jedoch bereits klar, dass es den Kräften, die sich hinter dem Kaiser versammelt hatten, sowohl am nötigen Zusammenhalt als auch an administrativer Erfahrung und politischer Vision mangelte, um ihn langfristig zu stützen. Die Kabinettsorder von 1852 hatte den Zweck gehabt, eine einheitliche Linie und Disziplin in Regierungsangelegenheiten zu gewährleisten, indem dem Kanzler die Aufsichtsfunktion zugewiesen wurde. Falls diese Funktion nun langfristig abgeschafft werden sollte, wie Wilhelm allem Anschein nach in seiner letzten Auseinandersetzung mit Bismarck forderte, wer oder was würde dann an ihre Stelle treten? Schließlich könnte man hinzufügen, dass die Auseinandersetzungen von 1889/90 neben den positiven Errungenschaften auch einige unrühmliche Charaktereigenschaften des Kaisers hervortreten ließen: eine Tendenz, nicht den richtigen Ton zu treffen und über das Ziel hinauszuschießen, ein ungeduldiger Drang, alles auf einmal zu erledigen, eine Impulsivität, die ihm in den süddeutschen Bundesstaaten schon im Januar 1890 den Beinamen »Wilhelm der Plötzliche« eingetragen hatte. Und Zeitgenossen, die sich häufig in seinem Umfeld aufhielten, beobachteten eine gewisse persönliche Labilität an ihm. »Die Gesundheit des Kaisers ist vortrefflich«, vertraute Philipp von Eulenburg im Sommer 1889 Holstein an, »seine Unruhe unermesslich. Sein schwankendes Aussehen lässt leider auf eine gewisse nervöse Disposition schließen.« 47

Banquos Geist: Bismarck im »Ruhestand«
     
    Nach seinem erzwungenen Abschied im März 1890 traf man Bismarck nur selten in Berlin an, aber im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit blieb er noch lange präsent. In erster Linie betrachteten viele den Abgang des alten Kanzlers als Vorboten eines heilsamen Wandels, als »Ende der inneren

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