Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
hatte. Da die gesetzgeberischen Pläne Wilhelms auch eine deutliche Steigerung der Militärausgaben vorsahen, zögerte der Kaiser immer noch, sich von dem Kanzler zu trennen, solange er meinte, dass er dessen Unterstützung für die Verabschiedung der umstrittenen Vorschläge durch das Parlament benötige. Über seine parlamentarische Basis hatte Bismarck das Druckmittel, das er brauchte, um den Kaiser zur Unterstützung des Sozialistengesetzes zu bewegen, das ihm wiederum eine späte Genugtuung bescheren würde. Doch auch dieser Vorteil ging verloren, als das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 bekannt wurde. Das Kartell, das Bismarck 1887 mitgeschmiedet hatte, war nunmehr zerschlagen; der Reichstag wurde von Sozialdemokraten, Linksliberalen und Katholiken dominiert – mit anderen Worten, von den Parteien der Opposition oder den »Reichsfeinden«, wie Bismarck sie so häufig gebrandmarkt hatte.
Das Ende wurde durch zwei Episoden beschleunigt, welche die Vorrechte des kaiserlichen Amtes und die Vollmacht des Kaisers berührten, die Formulierung der Politik zu beeinflussen (oder zu steuern). Im März 1890 trat Bismarck unvermutet an Ludwig Windthorst, den parlamentarischen Führer der katholischen Zentrumspartei, heran. Die beiden Männer erörterten die Bedingungen, unter denen das Zentrum künftig bereit wäre, ihre Stimmen im Reichstag der Regierung zur Verfügung zu stellen. Unter anderem forderte Windthorst die Aufhebung mehrerer antikatholischer Gesetze wie die Vertreibung des Jesuiten-Ordens, die noch aus der Zeit des »Kulturkampfs« Bismarcks gegen die Katholiken in den siebziger Jahren stammten.
Ein Schritt auf die Katholiken zu war bei der Sitzverteilung im Reichstag durchaus vernünftig; mit 106 Sitzen verfügte das Zentrum über das größte Einzelkontingent an Sitzen. Bismarck hatte mit Blick auf das bevorstehende Militärgesetz möglicherweise die Absicht, dem Kaiser zu demonstrieren, dass er ihm als politischer Lenker im Reichstag immer noch gute Dienste leisten konnte. Doch im historischen Kontext vom März 1890 war das Treffen mit Windthorst äußerst unklug. Der Kaiser lehnte vehement sämtliche Zugeständnisse an das katholische Lager ab – der Rückruf des aus dem Land vertriebenen Ordens der Redemptoristen war ihm bereits im September 1889 vorgelegt und kategorisch zurückgewiesen worden. 42 Er wurde von Personen in seinem Umfeld aufgestachelt, gegenüber den Katholiken hart zu bleiben. Während des ganzen Herbstes und Winters 1889 ermahnten Eulenburg, der Großherzog von Baden, Holstein und andere Wilhelm, sich vor allen Schritten Bismarcks zur Versöhnung der Katholiken zu hüten. Insbesondere Philipp Eulenburg warnte mehrmals, dass Zugeständnisse an die partikularistischen und ultramontanen Kräfte im deutschen Katholizismus die Integrität des Reiches gefährden würden. 43 Die weite Verbreitung solcher Ängste erinnert auf frappierende Weise daran, wie zerbrechlich das Nationalbewusstsein in Deutschland fast zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung immer noch war. Das Treffen mit Windthorst hatte darüber hinaus eine katastrophale Wirkung auf den Rest der mehrheitlich protestantischen und antiklerikalen Regierungsfraktion im Reichstag. Proteste kamen von den Nationalliberalen und sogar von den gemäßigten »Freikonservativen«, die zuvor eingefleischte Bismarck-Anhänger gewesen waren. Bismarck war jetzt stärker isoliert als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1866.
Da Wilhelm die Gunst der Stunde erkannte, suchte er geradezu die entscheidende Konfrontation. In einer zermürbenden Audienz am 15. März 1890 – morgens um 9.30 Uhr! – tadelte der Kaiser Bismarck, der noch nicht einmal gefrühstückt hatte, wegen des Treffens mit Windthorst. Er erklärte, der Kanzler habe nicht das Recht, ohne seine Erlaubnis mit Parteiführern zu verhandeln. Nur zwei Wochen zuvor, am 2. März, hatte Bismarck umgekehrt behauptet, Minister und andere Regierungsbeamte hätten kein Recht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Kanzlers mit dem Kaiser zu kommunizieren, und hatte auf seine Vollmacht nach der bereits erwähnten Kabinettsorder von 1852 verwiesen. Doch der Kaiser verlangte nunmehr, dass ihm die Order nochmals vorgelegt werde, damit er sie aufheben konnte. Wenn man Wilhelms eigener Schilderung von dem Treffen Glauben schenken kann, so geriet Bismarck an diesem Punkt so sehr in Rage, dass der Kaiser instinktiv nach seinem Degen griff. Daraufhin wurde der alte Mann »weich und weinte«,
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